Paragraf 301
lassen, diese Tochter eines Alevitenfressers?
Sie vertrauten sie der Obhut der Familie Barut an und versprachen, sie entweder hier abzuholen oder sich mit ihr in vier Tagen in Malatya zu treffen. Man würde telefonieren. Die Kinder waren begeistert, dass Zekiye blieb.
Osman war mit dieser Entscheidung sehr einverstanden. Er hatte bestimmt und mit scharfer Stimme verboten, Zekiye mitzunehmen, in diese Gegend, die Tunceli hieß, auch Fatma schloss sich diesem Urteil an, und so blieb Zekiye nichts anderes übrig, als ihre Rolle als Dolmetscherin aufzugeben.
Osman verbot den Davonreisenden, je das Wort Dersim zu gebrauchen, denn das könne als Separatismus ausgelegt werden und zu Verhaftung und Strafe führen; in dieser Gegend herrsche Krieg, das Munzurgebirge stecke voller Soldaten, dort müsse man mit allem rechnen, es gäbe täglich Schießereien und oft Tote, aber weder ein deutsches Konsulat noch überhaupt Leute, die ihnen im Ernstfall helfen würden. Sie seien unterwegs in einem Land, in dem Polizisten und Soldaten nach dem Gesetz für Übergriffe im Dienst nicht zur Rechenschaft gezogen werden durften. Das sei eine Einladung zu Folter und Mord, und wer in die Hände eines Bösen gerate, sei vogelfrei.
»Do not go there!«, hatte Osman gesagt, mehrmals, aber Schlüter blieb stur: Es musste nun einmal sein, dass sie hinfuhren.
Kurz nach neun Uhr waren sie aufgebrochen. Erst neben dem Auto, als es schon fast zu spät war, beim Abschied, während sie sich umarmten, sich mit den Teufelshörnchen sanft berührten, einmal rechts, einmal links, wie es Brauch war unter Männern hier, hatte Schlüter Osman vom Verschwinden der Kassette ins Ohr geflüstert. Er werde Zekiyes Sachen durchsuchen, »until I find it, I promise«, flüsterte Osman. Und dann würde er das Band vernichten, mit Verlaub. Noch ein Versprechen.
»Excuse me, my friend, but you are a bloody bastard«, wisperte Osman zum Schluss, berührte noch einmal mit seiner rechten Stirn Schlüters linke, wie könne er, Schlüter, sich einbilden, so schlau zu sein, während er doch gleichzeitig dumm wie Bohnenstroh gehandelt habe? Und glauben, er könne in Tunceli irgendetwas ausrichten? Wo er noch nicht einmal wisse, welche Worte gefährlich waren und welche nicht? Osman tupfte seine linke Stirn an Schlüters rechte und dann noch einmal die rechte an Schlüters linke, presste ihm zuletzt die Schultern und ließ ihn endlich los: »I will miss you, man of justice«, sagte er laut.
Meine Bücherweisheit, dachte Schlüter, was nützt mir die? Sie war gut für die Flucht aus dem Alltag, hier taugte sie nicht. Aber es war zu spät. Sie fuhren ins Dersim. Manchmal musste man eine Dummheit mit der nächsten krönen. Eine Dummheit kommt selten allein. Umkehren? Wann war die Zeit zum Umkehren? Immerhin war Clever ruhig wie stets, seit sie in Hamburg gestartet waren. Er war in seinem Element. Und eine Beruhigung, irgendwie.
Osman war enttäuscht gewesen, dass sie seiner Hilfe in Sivas nicht mehr bedurften, und so waren sie gestern am späten Nachmittag mit ihm zusammen nur auf Sightseeingtour gewesen, zur Sifaiye Medresesi, die auf dem Weg zu dem Institut im Selçuk Parkı lag. Der Fürst der Mongolen hatte sie im 12. Jahrhundert bauen lassen, ihre Tore schmückten Tierköpfe und Pflanzen, was Osman zu einem Exkurs über die Toleranz des Islam angeregt hatte, denn das Bilderverbot habe es nicht immer gegeben, es sei erst vor sechs- bis achthundert Jahren von den Hardlinern eingeführt worden, die behaupteten, der Koran höchstselbst verbiete Bilder. Heute glaube man, es habe nie andere Meinungen gegeben. Demnächst, so schimpfte Osman, werde man noch auf die Idee kommen, die Verzierungen zu schleifen, weil sie einen Affront gegen rechtschaffene Muslime darstellten.
Am Abend hatte Schlüter am Englischkurs teilnehmen müssen, denn diese hervorragende Gelegenheit zu praktischen Übungen am lebenden Ausländer durfte Osman seinen Schülern nicht vorenthalten. Plötzlich hatte Schlüter sich einer bunt gemischten Gruppe von Frauen und Männern verschiedenen Alters an Abc-Pulten gegenübergesehen und Konversation für Anfänger gemacht, während Osman an der Tafel schrieb. What’s your name? What’s your profession? How do you like Turkey ? Are you married? Do you have children? Alles musste Schlüter brav beantworten. Außerdem wollten die Schüler von ihm wissen, wie lange es noch dauern würde, bis die Türkei endlich in die EU aufgenommen würde. Erwartungsvoll
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