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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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der bis auf ein schwarzes Telefon und einen akkuraten Stapel Papier leer war, und wies ihnen die zwei Stühle gegenüber zu. Zwei der anderen Soldaten bezogen hinter den Reisenden Stellung. Aus den Augenwinkeln sah Schlüter die Läufe ihrer Gewehre, während er sich vorsichtig setzte.
    »Passport«, befahl der Jüngling und deutete mit dem Zeigefinger auf die Schreibtischplatte.
    Zum Glück trugen sie die Dokumente bei sich. Vorsichtig langte Schlüter in sein Jackett. Und wenn ich jetzt eine Waffe ziehen würde, fragte er sich, was würden die dann machen? Als er wieder aufsah, traf er auf den kalten Blick des Jünglings hinter dem Schreibtisch, der auch im Sitzen nicht die rechte Hand vom Abzug seiner Waffe genommen hatte. Schlüter hatte sich noch nie so darüber gefreut, dass er keine Waffe besaß.
    Sie legten die Ausweise auf den Tisch. Der Jüngling konfiszierte sie, hob zwei Blatt von dem Stapel Papier und schob sie über den Schreibtisch. »Fill out«, sagte er.
    Es waren zwei Formulare, die Rubriken waren auf Türkisch und Englisch erklärt. Name, Vorname, Geburtsdatum, Geburtsort. Beruf. Wohnort. Vaternamen, Mutternamen. Keine Rubrik für die Staatsangehörigkeit.
    Es lag nur ein Kugelschreiber auf dem Tisch. Schlüter begann, seine Daten in das Formular einzutragen. Langsam. Was sollte er als Beruf eintragen? Lawyer etwa? Rechtsanwälte konnten sie im Dersim mit Sicherheit nicht gebrauchen. Der Krieg kennt keine Rechtsanwälte. Die kommen erst wieder zum Zuge, wenn der Krieg vorbei ist und die Verbrecher in Zivil und zurück in Amt und Würden sind. Denn Krieg heißt Gesetzlosigkeit. Der Soldat macht seine Urteile selbst und vollstreckt sie auch gleich. Ohne Rechtsmittel. So war es Brauch auf der Welt nicht erst seit Dschingis Khans Zeiten.
    Es gibt eine Menge Berufe, überlegte Schlüter mit klopfendem Herzen, aber welcher würde zu ihm passen, sodass man keinen Betrug witterte? Einer plötzlichen Eingebung folgend, trug er Hotelmanager in das Formular ein. Veli Adaman hatte gesagt, er wünsche sich, wieder einmal Lehrer in der Heimat zu sein, oder wenn das nicht ginge, wolle er auf der Hochebene bei Ovacık ein Hotel bauen. Touristen müssten ins Dersim reisen, hatte er gesagt, denn wenn Touristen kämen, würde das Militär gehen. Ich muss immer Tunceli denken, von jetzt ab, korrigierte sich Schlüter erschrocken. Tunceli, Tunceli, Tunceli. Denn im Krieg sind auch die Gedanken nicht frei. Wer die Macht hat, bestimmt nicht nur, was du tust, er bestimmt auch, was du denkst. Nächste Rubrik: die Namen der Eltern.
    »My father has been dead for fifteen years and my mother is nearly ninety years old, what do you need their names for?«, fragte Schlüter aufmüpfig.

    »Father’s name. Mother’s name«, befahl die digitale Stimme des Soldaten.
    Der Mann, wenn er denn schon einer war, hatte ein olivgrünes rundes Gesicht, Schlüter glaubte auch eine kleine Augenfalte zu sehen. Ein Nachfahre der Eroberer, ein Erbe des Mongolenfürsten, dessen Reiterhorden einst das Land verheert hatten, der Städte und fruchtbare Felder in Schutt und Asche hatte legen lassen. Der Englisch gelernt hatte, um auch dem Reisenden befehlen zu können. Ob Seydi, Osmans Schüler, der Europafan, sich für solche Einsätze schulte? Schlüter senkte die Augen und schrieb: Herrmann Claus Schlüter, Hermine Magdalene Schlüter. Besser auch den zweiten Namen. Unterschrift. Ich versichere, dass alles richtig ist und der Wahrheit entspricht.
    Dann schob er Clever den Kugelschreiber zu.
    Clever trug seine Daten in das Formular ein, langsam, ohne Zögern, methodisch, mit halb geschlossenen Augen. Geboren am 20. März 1961. Da hätte ich zum Geburtstag gratulieren sollen, dachte Schlüter. Beruf: Koch. Der Hotelmanager und sein Koch. Haha. Unter der Rubrik Vatername schrieb Clever: Wolfgang Schäuble Clever. Und unter der Rubrik Muttername: Maria Theresia Clever. In ungelenken Buchstaben. Schlüter riss seinen Blick fort vom Formular und versuchte, so harmlos wie möglich auszusehen und zu atmen. Clever unterschrieb, schob auch sein Formular über den Schreibtisch.
    Der Soldat legte die Blätter nebeneinander, beugte sich über sie, verglich die Daten mit denen in den Ausweisen. Er hatte braune Augen. Endlich legte er sein Gewehr auf den Boden.
    »Where you go?«, fragte der Soldat.

    »To Tunceli city.«

    »What you do?«

    Schlüter zuckte die Schultern. »Look around. We are tourists. Nice landscape. Big mountains.«

    »Where you

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