Paragraf 301
sahen sie ihn an, als sei er der Herr über die politischen Geschicke beider Länder. Alle waren sich einig, dass Kohl ein lausiger Kanzler war, der Vorurteile gegen das auserwählte türkische Volk hatte, obwohl, und das hatte er davon, sein Sohn mit einer Türkin liiert war. Schlüter wand sich und erklärte, er wünsche sich die Türkei als Teil von Europa, aber leider werde es sicher noch sehr lange dauern, bis es so weit sei.
Als die beiden Unterrichtsstunden um waren, schüttelten ihm die zwölf Schüler, auch die vier Frauen, die Hand, manche nahmen beide Hände, und ein Mann namens Seydi schüttelte sie ihm besonders inbrünstig mit den Worten: »I love Germany so very much!« Deutschland war für jeden zweiten Türken das Land der Sehnsucht, in dem Milch und Honig flossen, warum?
»Was ist Seydis Beruf?«, hatte Schlüter Osman gefragt, als die Schüler fort waren.
»Er ist beim Militär«, antwortete Osman und sah abwesend auf das Konterfei des Großen Atatürk, das im Flur hing. »Er will nach oben und dafür muss er Englisch können.«
»Und was bedeutet der Spruch da?«, fragte Schlüter, Osmans Blick folgend, wobei er an das französisch-deutsche Wörterbuch für den Kontakt mit dem Feind dachte, das er von seinem Großvater geerbt hatte.
»Oh«, sagte Osman. »Ne mutlu türküm diyene: Glücklich ist, wer sich ein Türke nennen kann.«
»Und wer kein Türke ist, was soll der sagen?«
»Alle sind Türken. Wir sprechen von den türkischen Völkern, sie sind zwar verschieden, aber alle sind Türken. Wir sind alle Brüder, weißt du?«
»Und was ist mit den Kurden und den Zaza und …«
»Das sind Türken, sagte ich doch«, unterbrach Osman. »So wie ihr auch Leute habt, die in der Türkei geboren und jetzt Deutsche sind. Sie sind alle Deutsche.«
Schlüter seufzte. Er würde nie begreifen, was ein Türke unter einem Türken verstand. Jedenfalls musste es schwer sein, ein Bruder zu sein, der nicht die gleichen Rechte genoss.
»Und was bedeutet der andere Spruch da?«
Zwei Meter neben dem Bild hing ein anderes, das den Führer der türkischen Völker im fortgeschrittenen Alter zeigte, mit weiß-weisem Schnurrbart und visionärem Blick.
»Glück im Haus, Glück im Land. So ungefähr.«
»Findest du die Sprüche gut?«
»Das ist egal, was ich finde. Die Hauptsache ist, dass die Bilder da hängen. Wenn sie da nicht hängen würden, bekäme ich Schwierigkeiten.«
»Wieso trugen die Frauen keinen Schleier?«
»Entweder weil sie sowieso keinen tragen, vielleicht weil sie Aleviten sind, oder weil sie keinen tragen dürfen, weil das hier eine Schule ist. In öffentlichen Einrichtungen darf man keinen Schleier tragen.«
»Aber deine Englischschule ist doch privat!«
»Ja, aber mit staatlicher Genehmigung.«
So war das.
Dann waren sie zu Fuß zurück zu Osmans Wohnung gegangen, wo die anderen schon beim Abendessen saßen, der Fernseher lief und die beiden Engel sich auf dem Sofa räkelten.
Fort waren sie gefahren, verfolgt von Osmans besorgtem Blick. Und rasselten jetzt mit einhundertundzehn Sachen über die raue graue Piste der Straße Nr. 200, deren vierspuriges Band meistens schnurgerade das Hochland zerschnitt gen Osten, woher der kalte Wind wehte. Ringsum verstellten schneebedeckte Berge den Horizont. Es waren nur fünf Grad, behauptete Clever. Er hatte seinen Sitz nach hinten gestellt, so weit es ging, und das Gepäck auf der Rückbank verteilt. Endlich konnte er seine langen Beine ausstrecken.
»Was meinst du?«, fragte Schlüter unsicher. »Übertreibt Osman nicht vielleicht ein bisschen?«
»Inwiefern?«
»Mit dem Krieg.«
»Und wenn schon?«, antwortete Clever sibyllinisch und kräuselte die Lippen.
»Ich meine nur so«, sagte Schlüter. »Weil wir ja theoretisch noch umkehren könnten.«
»Willst du?«
»Nee.«
Und damit war es endgültig zu spät. Sollte es kommen, wie es kommen wollte.
Und nun fuhren sie hier, Schlüter, der Advokat auf Abwegen, und Clever, sein Auslandsgehilfe, und das verdammte Tonband war weg. Sollte er diese Sache jetzt ansprechen?
»Was hat dieses Vademecum gestern bedeutet oder wie das hieß?«, fragte er stattdessen.
»Vaat etmekuz?«, korrigierte Clever. »Wir versprechen.«
»Woher weißt du das alles eigentlich?«
»Knast«, sagte Clever. »Ich habe über ein halbes Jahr mit zwei Türken zusammen gesessen. Ein Kurde, der wegen Rauschgift drin war, und ein Türke, den sie abschieben wollten. Die haben die ganze Zeit Türkisch geredet. So
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