Paragraf 301
Heute war Samstag, der 25. März. Es kam ihm vor, als sei er schon Wochen unterwegs in diesem Land und nicht erst seit drei Tagen. Und im Büro hatte er sich auch noch nicht gemeldet. Irgendwie war es ihm egal geworden. Von hier aus hatte er keine Macht über die Geschehnisse dort. Es musste ohne ihn gehen. Sollte es laufen, wie es wollte. Die Welten waren zu verschieden, sie passten nicht in einen Kopf. Er wollte fort von hier. Zurück in die heile Welt. Nein: Morgen, am Sonntag, würden sie nach Ovacık fahren. Heyder Cengi. Einem Einzelnen konnte man vielleicht helfen.
Unten öffnete sich die Tür des gegenüberliegenden Hauses, ein Schein gelben Lichts fiel traulich auf das Pflaster, Männer gingen ein und aus. Worte schallten herauf, Gesprächsfetzen. Fast wie zu Hause im Gerbergang, wenn er oben am Fenster stand, mit einer Tasse Tee auf dem Fensterbrett, vielleicht einem Buch in der Hand oder unter dem Arm. Birahanesi , Bierstube, stand in großen Lettern unten über der Tür. Zwei Frauen zogen sie auf, die Lampen leuchteten eine halbe Sekunde auf ihr braunes Haar, als sie in das Lokal traten. Erst jetzt wurde Schlüter bewusst, was es war, was ihn an zu Hause erinnerte und was zugleich so anders war in dieser unzugänglichen Gebirgsgegend, anders als in den großen Städten Malatya und Sivas und anders als in all den anderen Orten, die sie unterwegs gesehen hatten: Seit der Abzweigung von der Straße Nr. 100, seit über hundert Kilometern, hatten sie keine einzige Moschee gesehen, keine einzige verschleierte Frau. Hier trugen die Frauen ihre langen Haare offen, auch die Alten ließen sie in Zöpfen auf den Rücken fallen, sie gingen ohne männliche Begleitung aus, abends in eine Bierkneipe, es gab keine Schleier, keinen Çarsaf und auch keine Burka, wie er sie vereinzelt in Sivas gesehen hatte, und nirgendwo erscholl der Ruf zum Gebet. In dieser Stadt roch es europäisch. Mitten im Krieg. Besê Adaman hatte mit ihnen so gesprochen wie eine Frau in Deutschland mit Männern sprechen würde. Sie hatte ihnen in die Augen gesehen, mit einem Blick, der voller Trauer und depressiv, resigniert war, ihnen gegenüber auf einem Sessel hatte sie gesessen, sie trug ihre Haare in einem langen losen Zopf, der ihr halb den Rücken hinunterreichte. Dichtes, schon graues Haar, an den Spitzen hennarot gefärbt, über das Veli Adaman zuletzt im Herbst 1993 seine Hand gestrichen hatte, beim Abschied für ungewisse Jahre, vor seinem gefährlichen Weg nach Deutschland, mit falschem Pass über Teheran nach Frankfurt.
Bevor sie Besê Adaman gefunden hatten, waren sie drei weitere Stunden durch das Gebirge gefahren, bis sie nach Tunceli gekommen waren. Schneller ließ es die gefährliche Piste nicht zu.
Allgegenwärtig waren die Soldaten, in Baracken, Containern, Panzern, Jeeps. Das Militär belauerte die Dörfer, die ausgestorben wirkten. Vor manchen Lehmhütten hockten ein paar Alte in der Sonne wie schwarze Krähen, als warteten sie auf bessere Zeiten, auf die Rückkehr der Jungen, die geflohen waren nach Europa oder wenigstens nach Istanbul, die vielleicht aber auch in den Bergen lagen, im Schnee versteckt waren, denn die PKK griff nachts die Posten an, hatte Besê Adaman berichtet, oder vielleicht warteten sie auch nur auf den Tod.
Die Straße steil am grauen Fluss, der durch die engen Windungen der steinigen Schlucht nach Süden schäumte, um sich bei Tunceli mit dem Munzur zu vereinigen und dann die gestauten Wasser des Euphrat zu mehren. Osman hatte erzählt, dass man die fruchtbaren Ebenen im Süden des Landes, bis nach Sanlıurfa hin, bis an die syrische Grenze bewässern wollte, bis zu jener Stadt sollte das Wasser fließen, die in alter Zeit den griechischen Wissenschaftlern Asyl gewährt hatte; an der Medrese von Sanlıurfa, das damals Edessa hieß, wurden ihre Werke ins Arabische übersetzt, um mit Mohammeds Siegeszug an der Küste Nordafrikas entlang nach Spanien zu gelangen, wo sie wiederum in europäische Sprachen zurückübertragen wurden. Wissen fließt in jede Richtung, Wasser nach unten und Geld nach oben.
Zerschossene Fassaden, Patronenhülsen, verlassene Gehöfte, zerstörte Brücken, Gräber neben der Straße, als habe man die Toten nicht weiter forttragen können oder als sollten sie in der Heimat bleiben, neben ihrem Haus, mit weitem Blick über Fluss und Berge, im tröstenden Licht der Sonne. Manche Häuser waren notdürftig repariert, Lumpenhäuser aus hergeschlepptem Stein, Plastikfolien und Lehm,
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