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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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erst, als sie die Abzweigung nach Xozat knappe hundert Meter hinter der Kontrollstelle passiert hatten, beschleunigte er etwas.
    Er atmete tief aus. Sie begannen alle drei gleichzeitig zu reden. Clever ließ ein triumphierendes Lachen dröhnen, klappte die Sonnenblende herunter und setzte eines der leeren Tonbänder in das Diktiergerät ein.
    »Arschlöcher blöde«, machte er seiner Wut Luft. »Verdammte Scheißer elende! Mistkerle verfluchte, Wichser primitive!«
    Ezo schüttelte den Kopf. »You can’t blame them; sie sind ahnungslose Jungen. Sie haben Angst und man hat ihnen Schauergeschichten über uns erzählt.« Sie hatte ein Lächeln im Gesicht, das erste Mal, und so breit, dass Schlüter es im Rückspiegel sehen konnte.
    Clever hatte einen roten Kopf bekommen. Verstand die Frau etwa deutsche Flüche? »Was hat sie eigentlich für ’ne Sprache geredet?«, fragte er schnell.
    Schlüter übersetzte.
    Sie hatte zuerst Türkisch gesprochen, aber dann Dersimci, den Zazadialekt, der in dieser Gegend gebräuchlich war.
    »Ich denke, der ist verboten?«
    »Ist er auch, aber die Kerle trauen sich nichts, wenn eine Frau ihnen in die Augen sieht und die Wahrheit sagt. Sie müssen endlich kapieren, dass sie uns und unsere Sprache niemals ausrotten können. Und sie müssen lernen, dass wir eine Sprache haben, die sie nicht verstehen. Sie müssen begreifen, dass wir kein türkisches Volk sind, das einen türkischen Dialekt spricht!«
    Was habe Ezo gesagt? Sie habe den Soldaten erklärt, dass die Ausländer zu Besuch seien, Deutsche, wie sie ja wohl in den Pässen gelesen hätten, Touristen, die das Paradies noch sehen wollten, bevor es untergehe, die mit Sicherheit nichts mit der PKK zu schaffen hätten, falls man das vermuten sollte, und deshalb habe kein verdammter Soldat das Recht, die Besucher wie verdammte Terroristen zu behandeln, sondern die verdammte Pflicht zur Gastfreundschaft.
    »Verdammt habe ich zwar nicht gesagt, aber trotzdem können sie es nicht aushalten, wenn eine Frau ihnen in die Augen sieht und die Wahrheit sagt!«
    Jetzt lachte sie. Die sechzehnjährige Frau.
    Die Straße führte wieder am Fluss entlang, oft im Schatten überhängender Felsen, manchmal auf der einen, manchmal auf der anderen Seite des Flusses, aber immer bergauf. Durch Wasserlöcher, an Steinschlaghalden vorbei. Eine dumpfe Gleichgültigkeit hatte sich Schlüters bemächtigt. Ich muss mich zusammenreißen, dachte er. Und machte sich klar, weshalb sie diese Expedition wagten. Wir sind verrückt. Wir bringen uns um Kopf und Kragen. Wann fahren wir endlich wieder nach Hause? Wann kriege ich endlich wieder eine anständige Tasse Tee?
    Wo die Schlucht sich weitete zu ebenem Land, gab es Häuser, Dörfer, die wie alle anderen vom Militär belagert, eingeschnürt waren, sie schienen öder, verlassener, einsamer noch als die nördlich von Tunceli, Menschen waren nicht zu sehen, noch nicht einmal die Soldaten, nur ihre Unterkünfte, ihre Panzer, ihre Zäune. Ein paar schwarz gekleidete Alte hockten vor ihren Lehmbauten apathisch in der Sonne.
    Irgendwann tauchten sie aus der Enge der Felsen auf und gelangten auf eine kahle Hochebene, die von schneebedeckten Bergen umschlossen war: wie ein weißer Thron unter dem Himmel. Vor ihnen tauchte ein breiter Haufe Häuser auf: Ovacık, die Heimat des Heyder Cengi. Schnee und brauner Lehm wechselten sich ab. Kein Strauch, keine Blume, kein Frühling, keine Hoffnung.
    Sie waren am Ziel.
    Vor dem Ort, auf freiem Feld: Zelte, flatternde blaue und grüne Planen, schiefe Verschläge, zwischen denen Kinder, Schafe und Hunde im schmutzigen Lehm liefen. Hier wohnten die Vertriebenen der noch weiter abgelegenen Dörfer in den Hochtälern. Sie hatten den eisigen Winter auf freiem Feld und ohne feste Behausung überlebt: die künftigen illegalen Wanderarbeiter von Bern, Köln, Uppsala und Hemmstedt.

    Sie fuhren durch den Ort, der aus Gevierten gemauerter zweistöckiger Häuser und umliegenden flachen Gebäuden aus Beton und Lehm bestand. Auch hier die Plätze und Straßen voller untätig umherstreifender Menschen mit ernsten Gesichtern, mehr, als die kleine Stadt fassen konnte.
    Ezo erklärte, sie kenne jemanden, den sie nach dem Dede fragen könnte, und dirigierte Schlüter an das westliche Ende des Ortes vor ein breites Gebäude mit einer Betontreppe, die in den ersten Stock führte: Otel Doga Turistik. Es gab sogar ein Hotel, am Ende der Welt.
    Sie parkten vor der Treppe, stiegen steifbeinig aus und folgten

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