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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Heidelberg, seien längst deutsche Bürger geworden, nur er sitze hier in diesem Drecksnest und sei umgeben von Feiglingen, Spitzeln und Militär. Ein kleines Verhör würde er schon noch durchstehen, denn man sei kein Mensch mehr, wenn man zu feige sei, aber auch bald keiner mehr, wenn man zu mutig sei, man sei den ganzen Tag damit beschäftigt, diesen verdammten Mittelweg zu finden. Er werde den Herren schon erklären, was er den Touristen von seiner Zeit in Heidelberg erzählt habe, und heute Abend könne man sich vielleicht drüben im Hotel im Restaurant treffen, vielleicht so gegen neun, vielleicht wisse er dann auch mehr über den Herrn Helmut Erna Ypsilon, und sie möchten von ihm, dem Teewirt, den ehrwürdigen Dede grüßen, denn dieser Mann sei ein Monument, er habe sein ganzes Leben hier im Dersim verbracht, obwohl man ihm das Kostbarste genommen habe, was ein Mensch besitzen könne: sein Kind, seinen Sohn. Und doch habe man ihn nicht brechen können.
    Seitdem sein Sohn tot sei, habe sich der Dede nicht mehr den Bart und das Haar geschnitten und keine Hilfe mehr vom Staat angenommen. Von den Mördern seines Sohnes brauche er weder Gnade noch Hilfe. Niemand dürfe ihn deshalb aufsuchen, ohne ihm ein Geschenk mitzubringen, erklärte der Teewirt.
    Er verschwand hinter seinem Tresen, bückte sich und tauchte mit einem großen Packen Tee wieder auf. »Das, bitte, gebt ihm das.«
    Clever nahm das Paket mit beiden Händen entgegen und versprach: »Klar, Mann.«
    Ezo beugte sich vor und fragte: »What did he tell you?«
    »He spoke about his time in Germany «, antwortete Schlüter, eine Spur lauter als notwendig, damit die Herren vom Nebentisch vielleicht etwas mitbekämen. » Germany is very good, he says, and he wants Turkey to become a part of the European Union.«

    Sie ließen sich die Wegbeschreibung geben und brachen auf. Vor der Tür empfingen sie die Sonne und der Blöde, der Schlüter wieder die Hand küssen wollte.
    Noch lange spürten sie die Blicke der schweigenden Männer im Rücken.

48.
    Sie fanden das Haus des Alten nicht weit von der Zeltsiedlung am Anfang des Ortes in einer Nebenstraße, in der es nur Häuser mit flachen Dächern aus gestampftem und gesalzenem Lehm gab, manche von ihnen sogar zweigeschossig, mit Treppen und Laubengängen aus runden Stämmen. Schmutzige Schneeberge türmten sich zwischen den Häusern und zwei Kinder in zerrissenen Kleidern spielten mit einem Hundewelpen heile Welt.
    Das Haus war ein Eckhaus, sie standen vor einer niedrigen Brettertür, von der die blaue Farbe blätterte. Sie wurde geöffnet von einer winzigen Greisin mit tausend Runzeln in ihrem runden Gesichtchen. Aus jungen leuchtenden Augen sah die alte Frau fragend von einem zum andern. Sie trug ein Kopftuch, unter dem ein hennagefärbter Zopf hervorlugte, und eine blau geblümte geräumige Pumphose, wie sie von den Frauen dieser Gegend getragen wurde. Ezo sprach mit ihr, sie begrüßte alle mit zartem Handschlag und bat die Fremden ins Haus. Schlüter musste sich bücken und nach ihm Clever noch tiefer.
    Sie traten in einen dunklen Flur und wurden in ein Zimmer rechter Hand geführt.
    Der Alte hockte gebeugt und zottelköpfig auf einem zerschlissenen Diwan gegenüber der Tür, die stockdünnen Beine unter dem Gesäß gekreuzt, eine Decke über die spitzen Schultern gelegt, die großen Hände ruhten in seinem Schoß. Vor dem eisernen Ofen stand ein winziger Tisch mit den Resten des Mittagmahls, von dem er wohl gegessen hatte. Vorsichtig traten die Besucher ein. Der Greis reagierte nicht. Plötzlich stand ein Mann in den Fünfzigern neben Schlüter; Ezo sprach mit ihm und bedeutete Schlüter und Clever, ihm die Plastiktüten mit Obst und Gemüse auszuhändigen, die sie mitgebracht hatten. Und Öztürks Tee.
    »Das ist sein Sohn«, erklärte Ezo. »Sein anderer Sohn.«
    Der andere Sohn trat an den Diwan und sprach den Vater an. Der Vater hob den Kopf und wurde der Besucher ansichtig. Seine Augen hüpften im grauen Gespinst von Bart und Haaren wie Insekten im Gras, er hob eine Hand und begrüßte die Gäste mit einer langsamen Bewegung. Er sagte etwas.

    »Was sagt er?«, fragte Schlüter.
    »Er sagt, dass er müde ist und alt«, übersetzte Ezo. »Und dass wir uns setzen sollen, und Sie sollen sich neben ihn setzen.«
    Zwei alte Frauen waren in das Zimmer gekommen, die eine von ihnen stellte einen runden Klapptisch in der Mitte auf, der nur eine Handspanne hoch war, dann ließ sie sich neben der anderen auf

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