Paragraf 301
Ezo in eine benachbarte Straße. Im Erdgeschoss eines Wohnhauses befand sich offenbar eine Teestube, denn sie sahen zwei große Fenster, dazwischen eine Eingangstür, darüber ein blaues Sonnensegel und vor der Tür saßen Männer, fast alle jenseits der fünfzig, auf winzigen Hockern mit u-förmiger Sitzfläche an Tischchen und schlürften Tee aus Gläschen. Alle blickten sie in die Richtung der Neuankömmlinge. Bärtige Männer in groben Hosen und ausgebeulten Jacketts mit langsamen, abwartenden Bewegungen. Niemand lächelte. Nur einer, der einzige junge unter ihnen, löste sich mit plumpen Schritten aus der Gruppe und kam blöde grinsend auf die Reisenden zu. Ihm fehlte ein Zahn im Unterkiefer und der Speichel lief ihm am Kinn herunter. Er griff nach Schlüters Hand, lallte und versuchte, die Hand zu küssen, wie der Leibeigene die seines strengen Herrn.
Ezo sprach den Mann an, schob ihn sanft in die Gruppe der anderen Männern zurück und ging mit entschlossenem Schritt in die Teestube. Langsam folgte Schlüter ihr, durch die Phalanx der Männer, die sich vor ihm schweigend öffnete.
47.
Die Teestube war ein tiefer Raum, an dessen dunklem Ende der Wirt hinter seinem hölzernen Tresen mit dem Aufbrühen frischen Tees beschäftigt war. An einem der vier runden Tische, die es gab, saßen vier rauchende Männer, jeder sein Glas vor sich, auch sie eher alt als jung. Verstohlen betrachteten sie die Fremden, die nacheinander das Lokal betreten hatten. Die Sonne schien, und wer das Licht des Tages vertrug, trank seinen Tee lieber draußen in der frischen Luft.
Ezo sprach den Mann hinter dem Tresen an und wechselte einige leise Sätze mit ihm.
Der Teewirt sah auf, lächelte und sagte auf Deutsch: »Herzlich willkommen in Ovacık.«
Clever nahm an dem Tisch gleich vor dem Tresen Platz. »Wo bist ’n du her?«, fragte er. Er hatte den schwäbischen Tonfall bemerkt und den Bruder im Geiste erkannt.
»Heidelberg«, antwortete der Teestubenwirt und grinste. »Da bin ich hin, als ich fünf war. Heidelberg ist meine Heimat.« Er trug einen drei Tage alten Schnurrbart, der seinem Gesicht etwas Verwegenes gab. Er mochte reichlich zwanzig sein und sah durchtrainiert aus. Einer der wenigen jungen Leute hier, dachte Schlüter.
»Und wieso bist du jetzt hier?«
»Das is ’ne lange Geschichte. Und ihr?«
»Wir suchen Leute, die uns was über die Verbrechen von 1938 erzählen können«, kam Clever zur Sache, denn mit Brüdern sprach man ohne Umschweife. »Und Leute, die – kennst du …?«
»Keine Namen bitte«, unterbrach der Teewirt. »In diesem Ort gibt es mindestens zweihundert Spitzel, die gegen Geld alles verraten, und man kann sich nie sicher sein, ob nicht gerade einer im Raum ist. Ihr könnt alles von mir erfahren, wenn ihr so tut, als ob ihr Touristen seid.«
Er wandte sich an die vier Männer an dem runden Tisch und begann auf Türkisch zu reden. Mittlerweile konnte Schlüter den Klang der Sprachen – Türkisch und Zazaki, oder Dersimci, wie die Leute ihren Dialekt nannten – auseinanderhalten.
Zwei der Männer antworteten. Die beiden anderen verharrten in brütendem Schweigen über ihrem Tee und zogen an ihren Selbstgedrehten.
»Sie sagen, ihr solltet unbedingt zur Quelle fahren«, erklärte der Teewirt, während er Teegläser auf dem Tisch verteilte. »Zur Quelle des Munzur, meine ich. Der Schnee ist einigermaßen weggetaut. Vielleicht ist es warm genug, wenn die Sonne scheint. Die Leute gehen oft dahin. Sie machen Picknick. Deutsch kann von denen übrigens keiner, das weiß ich.«
»Und wieso redet ihr nicht in eurer eigenen Sprache?«, fragte Schlüter. Er vermied das Wort Dersimci.
»Ich bin nicht lebensmüde«, meinte der Teewirt achselzuckend. »Wer unsere Sprache spricht, ist Separatist. Ein Satz reicht für zwei Jahre Haft, und wenn du rauskommst, bist du nicht mehr der, der du vorher warst. Ich kenne genug Leute, die fertig sind für den Rest. Ich spreche unsere Sprache nur zu Hause, mit meiner Frau. Mit meiner Mutter. Mit ein paar Leuten noch. Noch nicht einmal mit unseren Kindern. Deutsch aber«, lachte er, »Deutsch ist hier gar kein Problem. Ich könnte problemlos ’ne deutsche Minderheit gründen und Kurse abhalten. Wahrscheinlich würde die Ç iller persönlich vorbeikommen, mir ein Vereinshaus und Geld spendieren. Deutschland extra prima!« Er wurde wieder ernst. »Schlaft ihr drüben im Hotel?«
»Das sollten wir tun«, meinte Clever. »Sonst kriegt noch jemand Schwierigkeiten wegen
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