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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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ist, das weiß ich nicht. Es muss nach Mitte März gewesen sein. Wir waren ganz oben in den Bergen gewesen, wo nur noch Schnee und Himmel sind, wir kehren zurück, wir springen lustig über die Schneeflecken, die noch im Schatten liegen, und singen ein Lied, und wir wissen nicht, dass es die letzte glückliche Stunde in unserem Leben sein wird. Plötzlich, bevor wir über die Hügelkuppe kommen, hören wir die Schüsse. Erschrocken bleiben wir stehen. Wir ziehen die Köpfe ein und ducken uns. Was haben die Schüsse zu bedeuten? Wir haben viel gehört in der letzten Zeit, Gerüchte von den Dörfern jenseits der Stadt Dersim, drüben bei Pülümür, die Eltern saßen für sich und steckten die Köpfe zusammen und flüsterten ernst miteinander. Es gab kein Radio und keine Verbindung zwischen den Dörfern, man wusste nichts Genaues oder hoffte, das Gehörte wäre falsch. Was hätten wir tun sollen? Wohin hätten wir fliehen sollen? Alle hatten Angst.

    Wir bücken uns noch tiefer und schleichen uns an die Kante der Hügelkuppe, wir verstecken uns und spähen zwischen den Steinen hervor. Soldaten haben das Dorf umstellt, sie stehen auf den Hügeln hinter den Häusern, sie laufen auf den Platz zwischen den Häusern, sie schreien, aber wir können nichts verstehen, denn es sind türkische Schreie, und wir beherrschen kein Türkisch, damals noch nicht. Die Soldaten reißen die Türen der Häuser auf, wir hören neue Schüsse, sie dringen in alle Häuser gleichzeitig ein. Ich sehe, wie meine Tante an den Haaren aus ihrem Haus gezerrt wird, sie schreit laut, zwei Soldaten werfen sie auf den Boden. Mein Onkel kommt aus dem Haus gerannt, er hat seine Flinte in der Hand, wir hören einen Schuss, dann noch einen, er torkelt und bleibt liegen und bewegt sich nicht mehr. Meine Tante wirft sich auf ihn und schreit noch lauter. Auch aus den anderen Häusern werden unsere Leute gestoßen, getrieben, meine Mutter, mein Vater, sie haben die Hände hinter dem Kopf verschränkt, sie haben verstanden, dass Gegenwehr mit dem Tod bestraft wird. Sie müssen sich auf den freien Platz zwischen den Häusern hinstellen. Wir sehen, wie die Soldaten lachen und die jungen Frauen aus der Gruppe herausziehen, ich kann die Gesichter erkennen, meine andere Cousine Zeynep ist dabei, sie ist dreizehn, meine Mutter nicht, sie ist über vierzig. Die Soldaten halten den Frauen die Gewehre vor, sie zucken mit den Läufen, sie treiben sie hinter die Häuser, damit die anderen nicht sehen, was sie mit ihnen machen, vielleicht schämen die Soldaten sich, aber Zeynep dreht sich um und will fortlaufen, wir hören wieder zwei Schüsse, ihre Arme fliegen in die Luft und sie fällt um, bleibt liegen, ein paar Meter fort vom Vater, sie hat es überstanden, sie hat es hinter sich, aber die anderen Mädchen und Frauen sind jetzt hinter dem Haus, wir sehen ihre aufgerissenen Augen, sie müssen sich ausziehen, und sie tun es, denn sie wollen nicht erschossen werden und sie wissen ja noch nicht, dass sie sowieso sterben müssen. Als die Soldaten anfangen, will meine Cousine neben mir aufstehen, sie zittert, aber ich zische ihr zu, sie soll liegen bleiben, sie will schreien, aber ich halte ihr den Mund zu, still, zische ich, bleib liegen, denn sonst müssen auch wir beide sterben, und sie weint in die trockene Erde, sie drückt ihr Gesicht fest hinein in die Erde und hebt es nicht wieder auf, damit sie nicht schreit; ich aber, ich kann nicht wegsehen, ich wollte, ich hätte es gekonnt, denn es ist eine furchtbare Strafe, das zu sehen, was ich gesehen habe, und nicht helfen zu können und überlebt zu haben, ganz zufällig und ohne eigenen Verdienst. Oft denke ich, es wäre besser gewesen, wenn ich damals mit gestorben wäre, ich denke, du hättest im Dorf sein sollen und auch fortlaufen sollen wie Zeynep, dann hätten sie dich erschossen und du hättest nicht dein ganzes Leben lang diese Bilder sehen müssen. Manchmal, wenn ich vielleicht glücklich sein könnte wie andere Großmütter, denke ich an das Geschehene, zum Beispiel, wenn ich meiner Enkeltochter beim Spielen zusehe, wenn sie Fragen stellt und alles wissen will, sie ist schlau, sie spricht schon Türkisch, wenn sie mich anlacht, könnte ich so glücklich sein wie sie, so glücklich, wie ich damals war, bevor die Soldaten alle getötet haben, nur nicht uns beide, die wir zwischen den Steinen oberhalb unseres Dorfes lagen, und meinen Bruder, der die Schafe hütete. Ich habe nicht geweint, nie mehr habe ich geweint

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