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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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uns.«
    Der Teewirt nickte bestätigend und schenkte ein. »Wie hieß der Mann doch gleich, über den ihr was wissen wollt? Ihr könnt ja buchstabieren, ich meine …«
    »Sehr schön«, grinste Clever. Er verstand sofort. »Also das ist Helmut, Erna, Ypsilon, Dora, Erna, Richard – das war der Vorname, kapito?«
    Der Kneipenwirt nickte.
    »Und der Nachname ist Cäsar, Erna, Nordpol, Gustav, Ida.« Clever war in seinem Element.
    »Und was wollt ihr über den wissen?«
    »Ob er hier Schwierigkeiten hatte …«
    »Schwierigkeiten haben wir alle, das kannst du mir glauben …«
    »Ich meine, ob sie den suchen, ob das Militär ihn haben will, ob er …« Clever warf einen Blick auf die vier Männer.
    »… in den Bergen war?«
    Schlüter nickte. »Auch das.«
    Sie hatten ausgetrunken und der Wirt schenkte die zweite Runde ein. »Der Name kommt mir bekannt vor«, sagte er.
    »Seine Mutter heißt Martha, Emil, Nordpol, Emil, Zeppelin, sein Vater Nordpol, Ungarn, Richard, Ida.«
    »Ich weiß. Ich werde zu ihnen gehen heute Abend.«
    »Außerdem wollen wir …«, Schlüter senkte die Stimme, »Dede Fırık besuchen.«
    »Er ist unsere Stimme seit 1938, ein alter Mann, aber …«
    »Everybody in Dersim knows Dede Fırık«, fügte Ezo hinzu. »Er ist den Weisheitsweg der vier Tore und vierzig Stufen gegangen.«
    Schlüter fiel auf, dass sie sich keine Mühe gaben, den Namen zu flüstern oder ihn zu buchstabieren. Vielleicht war der Mann immun?
    »Er war schon 1937 dabei, mit der Waffe in der Hand«, erklärte der Teewirt. »Ein sehr alter Mann. Er sieht ein bisschen arm aus und sein Haus ist so alt wie er selbst, er ist so alt wie unser Elend hier, und vielleicht sind seine Ansichten darüber, wie wir da rauskommen, auch zu alt, er redet zu viel vom Glauben und dem Alevitentum und zu wenig vom Kampf, denn er ist ein Dede, aber ich sage euch, Religion wird die Türken nicht vertreiben! Aber wenn ihr wissen wollt, wie es damals gewesen ist …«
    Er habe teuer bezahlt, der Dede, so teuer, wie man überhaupt bezahlen könne. Sein Sohn Bezaht sei von einem Hauptmann des Militärs umgebracht worden. Das sei 1981 gewesen, als es noch Wald gegeben habe hier in der Gegend. Bezaht sei Lehrer gewesen, oben in Trabzon am Schwarzen Meer, er habe seinen Vater besuchen wollen und sei festgenommen worden, unter irgendeinem Vorwand. Man habe ihn im Wald an einen Baum gefesselt, Holz vor ihm aufgeschichtet und ihn verbrannt, und das vor den Augen seines Bruders. Das Schlimmste an der Geschichte aber sei, fügte der Teewirt hinzu, dass der Sohn des Dede von einem Nachbarn verpfiffen worden war. Aus Neid. Wegen einer Strohschneidemaschine! Wie könne man sich gegenseitig so etwas antun?
    Sie beschlossen, den Alten sogleich aufzusuchen. Über jeden ihrer Schritte werde gewacht, erklärte der Teewirt. Touristen gebe es hier nicht, und wenn Fremde kämen, dann gingen die Spitzel und das Militär davon aus, dass diese Leute keine Touristen seien, sondern etwas Böses gegen den ehrenwerten türkischen Staat im Schilde führten, und sie würden vermutlich auch davon ausgehen, dass sie mit ihm, dem deutschsprachigen Ali Öztürk, einem der zehn Teewirte von Ovacık, nicht über Touristenzeugs und das Wetter und anderen langweiligen Mist gesprochen, sondern Informationen von ihm bekommen hätten, die dem ehrenwerten türkischen Staat Schaden zufügen und das ehrenwerte Türkentum beleidigen könnten, und genau das sei der Grund, warum es hier in der Gegend so gut wie keinen Menschen gäbe, der mit Fremden redete, denn jeder müsse damit rechnen, anschließend verhaftet und verhört zu werden, und von einem Verhör käme man meistens nicht gesund wieder zurück, vielleicht taugten die Arme nichts mehr, denn die Folter sei doch ein schönes Mittel zur Wahrheitsfindung, zumal sie auch Spaß bringen könne, vor allem, wenn man dafür niemals bestraft werden könne, aber ihm, Ali Öztürk, sei das scheißegal, denn er habe die Freiheit kennengelernt in Deutschland, und wer die einmal geschmeckt habe, der könne nicht von ihr lassen, Deutschland sei seine Heimat, vierzehn herrliche Jahre habe er in Deutschland verbracht, vom fünften bis zum neunzehnten Lebensjahr, alle seine Freunde lebten in Deutschland, aber leider sei er so ein Vollidiot gewesen und habe sich nicht brav verhalten, er habe die Schule geschwänzt und sei klauen gegangen und ausgewiesen habe man ihn schließlich, als Einzigen von der ganzen Familie, die anderen seien alle noch in

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