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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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einem zweiten Diwan an der linken Wand nieder, von wo aus sie Schlüter erwartungsvoll ansahen. Zuletzt erschien die kleine Greisin, die sie empfangen hatte, mit einem winzigen hölzernen Höckerchen, das sie mit erstaunlicher Behändigkeit an die Wand neben die Tür stellte. Sie zupfte an Clevers Holzfällerhemd und bedeutete ihm lächelnd, darauf Platz zu nehmen. Sie verschwand erneut und kam wenige Sekunden später mit einem zweiten Hocker für Ezo zurück. Dann nahm sie selbst auf der Vorderkante des Diwans Platz, auf dem schon die beiden Frauen mit dem zweiten Sohn saßen.
    Der Alte hatte sich wieder in sich selbst zurückgezogen, bewegungslos hockte er auf seinen Füßen neben Schlüter, den Blick ins Ungefähre gerichtet. Die Frau, die den Tisch aufgestellt hatte, brachte die Teegläser und den Tee. Sie schenkte ein.
    An der Wand über Clever hing neben einem langhalsigen Saiteninstrument ein Bild, es zeigte das Porträt eines jungen Mannes mit Schnurrbart, der in die Ferne schaute.
    »Wer ist das?«, fragte Schlüter.
    Ezo übersetzte. Die Greisin begann zu sprechen, mit einer leisen festen Stimme.
    »Das ist der Dede 1938«, sagte Ezo. »Da war er siebenunddreißig Jahre alt. Als er mit Seyit Rıza gekämpft hat …«
    Schlüter rechnete. Der Mann neben ihm, der nur aus Haut, Knochen und Haaren zu bestehen schien und einer langen Nase, die aus seinem Gesicht ragte, war ein Jahr jünger als das Jahrhundert, er musste 94 Jahre alt sein.
    Der zweite Sohn stand auf und nahm das Instrument von der Wand. »Saz«, sagte er erklärend, legte es seinem Vater in den Schoß und flüsterte ihm etwas zu.
    Es war, als wachte der Alte auf; er sah alle Anwesenden der Reihe nach an, als sähe er sie erst jetzt, warf zuletzt Schlüter einen ernsten langen Blick zu und begann zögernd, die Saiten zu zupfen, er lauschte den Klängen nach, sie mischten sich mit dem leisem Zirpen der Grillen im Dach, dann öffnete er seinen zahnlosen Mund und begann zu singen. Der Alte fügte Strophe an Strophe, ein Refrain war herauszuhören. Seine Hände wirkten zu groß an seinen schmächtigen Armen und er hatte klauenartige gelbe Fingernägel.

    Als er zu Ende gesungen hatte, lehnte er das Instrument vor sich an das Sofa, zog das eine Bein unter dem Gesäß hervor, stellte es senkrecht vor seiner Brust auf und begann langsam zu sprechen, in einem lallenden Ton, mit verwischten Silben, als falle es ihm schwer, seine Lippen Laute formen zu lassen.
    »Er heißt euch willkommen«, sagte Ezo. »Er hat euch zur Begrüßung ein türkisches Lied vorgesungen, ein türkischer Freund hat das Gedicht geschrieben und der Dede hat die Musik dazu gemacht.«
    »Warum ein türkisches Lied?«, fragte Schlüter.
    »Warum nicht? Wenn es ein schönes Lied ist?« Vergelte nicht Gleiches mit Gleichem. Verachte kein Volk. Und hatte nicht Hacı Bektas Veli seine Weisheit in der türkischen Sprache verkündet?, erklärte Ezo. Und der Dichter Yunus Emre, der Dichter der Aleviten, habe seine Gedichte in türkischer Sprache geschrieben.
    Schlüter bat Ezo, dem Alten zu erklären, warum sie die lange Reise gemacht hatten. Ezo übersetzte, und als sie begann, sah Schlüter die wachsende Spannung auf den Gesichtern der Leute, er fühlte den wach gewordenen Blick des Alten auf sich ruhen, und als sie fertig war, schwiegen alle. Eine Minute. Zwei. Schlüter fragte, ob er das, was sie ihm berichten würden, auf Band aufnehmen dürfe, und zog sein Diktiergerät hervor. Er benötige Beweismaterial für die deutschen Gerichte.
    »Wir sind noch niemals befragt worden über das, was geschehen ist«, übersetzte Ezo.
    Sie begannen zu erzählen, zuerst der Alte und dann die Frauen.

49.
    Jede Nacht wache ich auf und sehe wieder, was ich damals gesehen habe, ich sehe es, als hätte ich es heute erlebt.

    Ich liege versteckt hinter einem Felsen, den Kopf zwischen den trockenen vorjährigen Disteln, aber ich spüre ihre Stacheln nicht, neben mir liegt meine Cousine Nesrin, wir lugen zwischen den Steinen durch hinunter auf unser Dorf, auf die zwölf Häuser aus Stein, die unsere Heimat waren. Unsere Eltern haben uns in die Berge geschickt, wir sollten meinem Bruder, der oben im Tal unsere Schafe und Ziegen hütete, etwas zu essen bringen und auf dem Rückweg vielleicht ein bisschen Gulik sammeln, wenn er schon aus der Erde gekommen ist, denn es ist März und die Sonne ist schon warm. Es ist die gleiche Zeit wie jetzt und der Schnee liegt so da draußen, wie er jetzt liegt. Welcher Tag es

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