Paragraf 301
aber der drehte sich um und erschoss den Kommandanten. Mit den Überresten von achtzehn Familien fanden wir ein Haus, das wir reparieren konnten, und dort haben wir gewohnt, bis wieder Soldaten kamen. Die haben uns nicht umgebracht, wie wir erwartet haben, sondern wir wurden nur deportiert in ein Dorf in der Nähe von Izmir, tausend Kilometer weit fort.
Während der Deportation habe ich Türkisch gelernt. Neun Jahre später durften wir zurück, mit neuen Nachnamen, denn in der Heimat hatten wir keine Nachnamen gehabt, und ich habe in unserem Dorf gelebt, bis es wieder verbrannt worden ist, 1983. Es kamen wieder Soldaten. Sie haben uns nicht getötet und nicht vergewaltigt, sie haben uns auch nicht deportiert. Sie haben nur unser Dorf verbrannt und wir mussten uns selbst eine neue Wohnstätte suchen. Jedes Mal, wenn ich einen Soldaten sehe, wird mir kalt.
Und nun lebe ich in Ovacık und erzähle diese Geschichte, aber nicht, um zu Hass, Menschenfeindlichkeit oder gar Vergeltung aufzurufen, wie es die Religion Mohammeds erlaubt, sondern damit die Wahrheit ans Licht kommt und zukünftige Generationen sich nicht etwa wieder wie reißende Tiere benehmen. Wir Aleviten denken mehr an die Zukunft als an die Vergangenheit.
50.
Der Anruf hatte ihn elektrisiert und er hatte es nicht abwarten können, bis es endlich Montagmorgen geworden war. Leider musste er auch an diesem Tag zuerst die Kühe melken, allein, wie in den zwölf Tagen, seit Heyder verhaftet worden war. Schlüter in der Türkei! Was mochte diesen Mann dazu bewogen haben, in das Land der Muselmanen zu fahren?
Diese verdammten zwölf Tage waren Heinsohn wie zwölf lange Wochen vorgekommen. Er hatte keine Kraft mehr. In weniger als sechs Wochen würde er das Vieh auf die Weiden treiben und die Drainage war nicht in Ordnung. Das hatten sie nicht mehr geschafft. Und vieles andere auch noch nicht. Allein: Er hatte keine Kraft. Die Sonne, die jeden Tag ein Stück höher in den Himmel stieg, flößte ihm auch keine ein. Im Gegenteil. Sie machte ihm Angst, denn die Zeit der Sonne war die Zeit, in der man das nächste Jahr sicherte. Heinsohn schaffte es gerade noch, die tägliche Routine aufrechtzuerhalten, aber nichts gelang, was über den Tag hinausging. Er hätte den Hof auch gleich aufgeben können, aber das hätte einen Entschluss verlangt und auch dafür fehlte ihm die Kraft.
Er wollte nicht nachdenken und machte einfach irgendwie weiter. Tief unten hoffte es in ihm, dass ihm die Entscheidung abgenommen werde. Ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall oder ein Unfall auf dem Hof, ein Beinbruch, eine Karambolage mit dem Auto, die ihn ins Krankenhaus befördern würde.
Aber es passierte ihm nichts, Heinsohn blieb gesund, er bekam noch nicht einmal eine mickrige Erkältung und er wühlte weiter auf seinem heruntergekommenen Hof, die Küche sah fast wieder so aus wie an jenem 22. November im letzten Jahr, an dem Heyder Cengi in sein Leben getreten war, es gab weder Lamacun noch Börek, sondern Steak mit Pellkartoffeln oder Bauernfrühstück.
Und dann der Anruf am Samstagabend um neun. Schlüter hatte sich aus der Türkei gemeldet und seine Frau Christa rief ihn, Heinsohn, an, um mitzuteilen, dass Schlüter dort etwas Wichtiges über Veli Adaman herausgefunden hatte, sie vermute, etwas, was Heyder Cengi helfen könne, sich wenigstens von dem Vorwurf zu befreien, seinen Onkel erschlagen zu haben. Er, Heinsohn, möge Cengi so schnell wie möglich aufsuchen, um ihm das mitzuteilen. Alles andere später.
An diesem Morgen des 27. März spürte Heinsohn zum ersten Mal seit Heyders Verhaftung so etwas wie Lebensenergie in seinen müden Adern. Dieser Schlüter hielt sein Versprechen und machte, was er konnte. Heinsohn war noch eine Stunde früher aufgewacht als sonst und hatte schon kurz nach fünf Uhr mit dem Melken angefangen, und jetzt, zweieinhalb Stunden später, saß er in seinem Wagen und schaukelte die Moorstraße entlang nach Hemmstedt, so schnell es ging. Nach einer weiteren Stunde stand er, die Besuchserlaubnis des Amtsrichters Vollmann in Händen, vor dem Eingang zur Justizvollzugsanstalt und klingelte. In seinen geflickten Gummistiefeln, die er in der Melkkammer mit Schlauch und Besen von Jauche und Mist gereinigt hatte, sah er wahrscheinlich heruntergekommen aus, aber das war ihm egal. Die Halbschuhe, die er zuletzt in Hamburg getragen hatte, passten nicht mehr, denn der linke Fuß war weiter angeschwollen, seit er an der Straßenböschung umgeknickt war,
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