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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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war. Vielleicht war das der Grund, warum der Beamte so geistesgegenwärtig war, den Mann aufzufangen, als er ohnmächtig wurde. Er packte Cengi mit der Faust am Hemd und ließ ihn vorsichtig vom Stuhl auf den Boden gleiten.
    »O Gottogott!«, fuhr es Heinsohn heraus.
    Gemeinsam brachten sie den Häftling in die stabile Seitenlage. Heinsohn zog sich die Jacke aus, rollte sie zusammen und schob sie Heyder unter den Kopf. Da lag er, mit flatternden Augenlidern.
    Der Beamte riss sich das Walkie-Talkie von der Hüfte, um den Notarzt zu alarmieren.
    Heinsohn zog seinen Stuhl beiseite und nahm den Fußboden unter dem Tisch ins Visier. Es war nichts zu sehen. Nichts außer ein paar Tabakkrümeln und ein bisschen Dreck aus Heinsohns Stall. Meine Güte, so schlechte Nerven!
    Der Bauer hockte sich, so gut es ging, neben Heyder und wartete, dass der Beamte zurückkam.

51.
    Aller guten Dinge sind drei, dachte Schlüter, als sie sich der Straßensperre hinter der Abzweigung nach Xozat näherten. Drei Mal waren sie jetzt kontrolliert worden. Drei Mal hatten sie das vermaledeite Formular ausgefüllt und drei Mal hatten die kindergesichtigen Soldaten sie misstrauisch angestarrt. Und immer war es gut gegangen. Clever hatte die Waffenträger mit den Namen seiner Eltern verarscht und abgesehen vom Zeitverlust war es nicht zu Problemen gekommen. Aber jetzt beschlich Schlüter ein böses Gefühl. Die Nacht schwenkte ihr frostiges Zepter und verhöhnte den Tag.

    Nachdem sie gestern beim Dede gewesen waren, hatten sie Touristen gespielt und waren zur Quelle des Munzur gefahren, auf der Schotterstraße westlich von Ovacık, die wie ein Bahndamm schnurgerade über die Hochebene führte, durch endlosen Schnee und umgeben von hohen Gipfeln. Es war noch zu kalt gewesen, um auf den Steinen an der Quelle zu sitzen.
    Und am Abend pünktlich um neun Uhr hatten sie sich mit dem Teewirt im Restaurant des Hotels getroffen. Sie hatten einen Eckplatz genommen, von wo aus man das Lokal übersehen konnte. An zwei der Tische saßen Soldaten in Zivil und aßen. Ihre runden Gesichter und ihr gedrungener Körperbau wiesen sie als Türken aus, und sie warfen misstrauisch-neugierige Blicke. Sie waren ohne Waffen. An einem anderen Tisch unterhielten sich zwei Frauen, während sie aßen.
    »Hast du was über Cengi rausgekriegt?«, fragte Clever und beschmeckte den Eintopf mit Hühnerfleisch und Auberginen fachmännisch.

    »Na klar«, antwortete Öztürk. »Sein Bruder Ramazan ist in die Berge gegangen und sie haben ihn umgebracht. Jedenfalls ist er verhaftet worden und nie wieder aufgetaucht. Wir wissen, was das zu bedeuten hat. Dann wurde Heyder zum Militär eingezogen. Nach Diyarbakır. An der irakischen Grenze. Das ist eine fürchterliche Gegend. Dort ist es fast noch schlimmer als hier. Es leben nur Kurden dort. Doch die Armee vertreibt sie aus ihren Dörfern. Und dazu war Heyder eingesetzt. Überall jagen sie PKK-Kämpfer und PKK-Helfer. Heyders Kommandant hat eine Frau verhört, deren Mann verschwunden war. Sie sollte sagen, wo er steckte. Heyder musste vor der Tür Wache schieben, als der Kommandant …«

    Öztürk hielt inne und sah die drei Zuhörer hilflos an.
    »Wir sind es nicht gewohnt, über so etwas zu reden«, flüsterte er. »Aber weil es wichtig ist, sage ich es jetzt: Frauen, die den Soldaten zu alt sind, vergewaltigen sie nicht. Sie nehmen – einen Stock …«
    Heyder habe ihre Schreie hören müssen. Die Frau sei verblutet, und Heyder sei untergetaucht, in die Berge geflüchtet. Er habe sich den PKK-Kämpfern angeschlossen, die hätten ihn versteckt. Er habe Glück gehabt. Denn die PKK-Leute seien sehr misstrauisch, wenn Soldaten zu ihnen überliefen. Sie hätten Angst vor Spitzeln. Viele Soldaten würden umgebracht werden, weil sie mit den Türken kollaboriert hätten. Cengi habe versucht, irgendwie außer Landes zu kommen. Bis fast zur griechischen Grenze habe er es geschafft, in Edirne habe man ihn geschnappt. Und dort habe er im Gefängnis gesessen. Vier Monate lang. Bis es seinen Verwandten gelungen sei, die Wachen durch Mittelsleute zu bestechen.
    »Noch im letzten Sommer haben sie Heyder gesucht«, erzählte Öztürk weiter. »Seine Mutter und seine Schwester Berfe haben mir das bestätigt. Die Gendarmen haben beide mit auf die Wache genommen und sie zwei Tage lang verhört. Zwei Tage lang! Zwei verdammte Tage lang!«, knirschte Öztürk.
    Aber sie hätten nichts verraten. Und es sei auch sonst nichts passiert. Nicht alle Soldaten

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