Paragraf 301
würden so handeln wie …
»Ich habe alles aufgeschrieben. Mit meiner Telefonnummer. Die sollen mich einfach anrufen aus Deutschland.«
So verdammt einfach war das.
Schlüter fragte, ob es Sinn mache, Heyder Cengis Familie noch selbst aufzusuchen. Öztürk empfahl, das bleiben zu lassen. Die Spitzel in Ovacık hätten mitbekommen, dass sie zum Dede gegangen seien. Wenn sie jetzt auch noch mitbekämen, dass sie Cengis Familie aufsuchten, würden sie die Leute noch mehr in Gefahr bringen.
Ali Öztürk hatte empfohlen, unbedingt erst nach Einbruch der Dunkelheit zu fahren, sie hätten bessere Chancen, sich zu verstecken, wenn etwas passieren würde. Was denn passieren könne? Oh, hatte der Teestubenwirt gegrinst, manchmal würden die Soldaten die Autos beschießen, entweder um jemanden einfach hereinzulegen, dem sie nichts hatten beweisen können, oder vielleicht, weil die Abstimmung zwischen den Soldaten unten am Schilderhaus und denen oben im Unterstand nicht klappte, manchmal aber auch, weil man die Quote an erlegten PKK-Kämpfern noch nicht erreicht habe, und wenn einer erst einmal tot sei, könne er ja nicht mehr beweisen, dass er nicht zur PKK gehört und nur friedliche Absichten gehabt habe, oder? Schließlich seien mindestens neunundneunzig Prozent der Einwohner von Dersim aktive PKK-Kämpfer, was sie schon gewesen seien, bevor es die PKK überhaupt gegeben habe, während der Rest sie mit Lebensmitteln versorge, da könne es ohnehin keinen Falschen treffen, haha. Eins aber müsse man wissen hier im Dersim: Dorfschützer gebe es nicht wie sonst überall im Osten, kein Dersimi habe sich dazu erniedrigt, vom türkischen Militär eine Waffe zu nehmen, um sie gegen seine eigenen Leute einzusetzen, und bislang sei es auch noch niemandem gelungen, die verschiedenen linken Organisationen gegeneinander auszuspielen: Wenn es darauf ankäme, arbeiteten sie zusammen. Und das sei es, was den Kontrolleuren an der Straße Angst mache, besonders in der Nacht. Gerade deshalb rate er ihnen, in der Nacht zu fahren, denn die Straßen seien tagsüber ebenso einsam wie nachts, nachts aber könne man sich besser verstecken.
Ja aber, hatte Schlüter eingewendet, sie seien doch Deutsche, deutsche Touristen, denen könne man doch keine PKK-Sachen anhängen.
»Na ja«, hatte Öztürk erwidert, »das stimmt schon, eigentlich, deswegen ist es ja auch besser, ihr fahrt allein, aber hier weiß man nie …«
Und dann hatte er gelacht und festgestellt, dass genau das doch gelogen sei, denn sie seien keine harmlosen Touristen, ganz und gar nicht …
Jedenfalls waren Öztürk und Ezo im Wagen des Hotelbesitzers vorausgefahren. Bei Tageslicht. Ihn würden die Soldaten kennen, ihm würde schon nichts passieren, und Ezo auch nicht. Schlüter und Clever mussten auf eigene Faust durchkommen, dabei könne er ihnen nicht helfen. Öztürk und Ezo hatten immerhin das Diktiergerät, die besprochenen Bänder und Öztürks Aufzeichnungen über Heyder Cengi mitgenommen. »Euch werden sie gründlich filzen«, hatte der Teewirt vermutet. »Jeder hier in Ovacık weiß, dass ihr nicht hergekommen seid, um die Quelle des Munzur zu sehen, sondern irgendwas im Schilde führt, vor allem, nachdem ihr beim Dede wart.«
Sie hatten verabredet, dass Ezo und Öztürk an der ersten Brücke über den Fluss auf Schlüter und Clever warten würden, mit den Dokumenten.
»Wir angeln solange«, hatte Ali Öztürk gelacht. Er war der Bruder Leichtfuß, zu leichtfüßig für Deutschland, und nun schmiedete er unablässig Pläne für die Rückkehr. Deutschland, so sagte er in singendem Schwäbisch, sei nun einmal seine Heimat und werde es bleiben. Er wolle sich von seiner Frau scheiden lassen und illegal nach Deutschland reisen, dort zum Schein heiraten, um sich dann, ausgestattet mit dem Recht zu dauerhaftem Aufenthalt, wieder scheiden zu lassen, damit er am Ende seine alevitische Frau neu heiraten und die beiden Kinder nachkommen lassen könne – ein Projekt von mindestens acht Jahren, das nebenher den Vorteil habe, dass er sich dabei seines elenden Namens entledigen könne.
»Weißt du, was Öztürk heißt?«, hatte er gefragt.
Sie schüttelten den Kopf.
Öztürk, erklärte er, heiße so viel wie echter Türke. Dabei sei er ja noch nicht mal ein richtiger Dersimi und mindestens zu drei Vierteln gefühlter Deutscher. Diesen Namen hatten die Türken seinem Großvater verpasst, nach 1938, damit er und seine Nachkommen von nun an und für alle Zeit echte Türken
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