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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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würden. Das einzige Problem sei der Lichtschein, der von den Buchstaben am Hang ausgehen würde, den steinernen Buchstaben, »frag nicht so viel, du wirst sie sehen«. Der Fahrer würde seine Zigarette zu Ende rauchen und über die blinden Passagiere eine Decke werfen, den Wagen starten und rückwärts an Bord fahren, denn auf der Pertek-Seite fuhr man rückwärts auf die Fähre. Und dann würden sie über den Euphrat setzen und nach einer knappen halben Stunde am Südufer anlegen. Dann waren sie so gut wie in Sicherheit, vorausgesetzt, es liefe alles so wie geplant und sie würden sich nicht rühren unter der Decke. Das Weitere würde sich finden, darüber könne er, Ali, nichts sagen.

    Unten am Anleger standen drei Autos, ein viertes rollte langsam heran, der Motor starb und das Licht erlosch.
    Die zwei Kilometer im Dunkeln über die Felsen bis nach Pertek hatten sie in weniger als einer Stunde geschafft. Ali hatte den Weg genau beschrieben, er war ihn unzählige Male gegangen und für einen erfahrenen Pfadfinder mit Kompass war es kein großes Problem gewesen, es ihm nachzutun. Clever hatte Schlüter fast an der Hand führen müssen, seit der Schießerei hatte Schlüter nicht mehr viel gesagt.
    »Was habt ihr mit den Leuten gemacht?«
    »Das Gleiche wie das, was sie mit uns gemacht hätten.«
    »Und was hätten sie mit euch gemacht?«
    »Sie hätten keine Gefangenen gemacht.«
    »Seid ihr verrückt geworden, meint ihr, das bringt was, unschuldige Soldaten umzubringen?«
    »Brüll nicht so und bilde dir nicht ein, du würdest von unseren Angelegenheiten etwas verstehen! Soldaten sind Mörder. Unschuldige Soldaten gibt es nicht.«
    »Gibt es doch!«
    »Gibt es nicht.«
    »Aber irgendeiner muss doch mal aufhören damit!«
    »Fang bloß nicht an zu heulen. Wir haben oft genug aufgehört. Seyit Rıza hat aufgehört. Sie haben ihn trotzdem aufgehängt. Später haben wir aufgehört. Immer wieder haben wir aufgehört. Sie wollen uns zu Türken machen und sie sind erst zufrieden, wenn sie im Letzten von uns das Gedächtnis an seine Herkunft ausgelöscht haben. Und weil wir das wissen, werden wir jetzt nicht mehr aufhören.«
    »Trotzdem –«
    »Du hast keine Ahnung! Sie sind wie Tiere, sie haben dem Bauern die Augen ausgestochen. Und vor ein paar Tagen hat es einem Jungen ein Bein abgerissen, auf einer Mine, bei Nazımiye …«
    »Aber diese haben das nicht getan!«
    »Diese drei? Sie vielleicht nicht. Aber sie sind wie die anderen, die es getan haben.«
    Ab da hatte Schlüter geschwiegen.
    Clever blickte sich um. Er war hellwach. Das Melancholische in seinen Augen war verschwunden. Gegen den nächtlichen Himmel sah er ein paar Meter hinter sich Schlüters reglose Schulter an einem Felsblock lehnen. Noch nicht einmal für sein Diktiergerät, die Bänder und die Papiere hatte er sich mehr interessiert. Die hatte er, Paul Clever, in einem Beutel neben sich liegen. Die Aufnahmen. Die Ausbeute dieser Reise! Damit konnten sie Cengi schließlich helfen. Als Ali die Sachen übergeben wollte, hingen Schlüter die Arme runter, als wäre er lahm geworden. Auch für Clever war das die erste Schießerei gewesen, die er miterlebt hatte. Aber er hatte sich oft genug von Schießereien erzählen lassen, um sich vorstellen zu können, was dabei mit einem passierte. Er selbst hatte nie mehr als einen kräftigen Schraubenzieher mitgenommen und war bei dem kleinsten Zeichen von Schwierigkeiten getürmt. Wie Leute ihre Opfer umbringen konnten, wenn sie beim Diebstahl überrascht wurden, war ihm unbegreiflich. Schließlich musste der Mensch wichtig und unwichtig auseinanderhalten können, aber offenbar fiel das manchen Leuten schwer. Nicht nur Einbrechern, auch Studierten.

    Drüben legte die Fähre ab. Vier Uhr. Man hörte ein fernes Brummeln und sah, wie die hellen Stäbe der Scheinwerfer suchend über das Wasser zuckten. Die Lichter an Bord gingen aus. Die Fähre machte Fahrt.
    Es wurde Zeit für den Lieferwagen.
    Ali hatte sich auf den Heimweg gemacht, sobald sie ausgestiegen waren. »Ich muss morgen wieder in Ovacık sein, und das wird ein langer Marsch werden.« Sie hatten sich umarmt und Clever hatte gelernt, dass man gute Kumpel nicht nur im Knast, sondern auch in den anatolischen Bergen treffen konnte. »Mach’s gut«, hatte er gesagt. »Hoffentlich sehen wir uns mal wieder, in der deutschen Heimat.« Nein, man konnte sich kein Urteil erlauben.
    Die Fähre hatte fast die halbe Strecke hinter sich gebracht. Zwei weitere Autos hatten

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