Paragraf 301
rief Clever.
Schlüter umklammerte mit seinen schwachen Fäusten das Lenkrad, bremste, kuppelte und gab Gas wie ein Automat. Er starrte auf das Ende des hellen Tunnels, das die Scheinwerfer ins Dunkle bohrten.
»Schneller!«, verlangte Clever.
Der Wagen schleuderte um die engen Kurven, schlidderte jetzt hart am Ufer des Flusses entlang und nahm Fahrt auf.
»Wir schaffen es!«, verkündete Clever, stieß ein Siegesheulen nach hinten aus und schüttelte triumphierend eine Faust.
Egal, wie viele Fahrzeuge ihnen folgten, sie konnten nur hintereinander fahren. Und zwei Minuten Vorsprung sind viel. Und vielleicht taugte der Fahrer, der im vordersten Wagen saß, nichts. Vielleicht hatte er Angst. Vielleicht wollte er keinen Krieg. Vielleicht hätte er sie lieber nicht verfolgt.
Plötzlich tauchten vor ihnen Männer im Scheinwerferlicht auf.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, brüllte Clever.
Vier Leute mit umgehängten Gewehren kreuzten die Arme über dem Kopf und zwangen sie zum Halt. Sie schossen nicht, sie zielten noch nicht einmal auf sie.
Schlüter stellte den Motor ab und riss die Arme hoch, im gleichen Augenblick flog die Fahrertür auf.
»Schnell«, schrie ein Mann. »Raus!«
Es war Öztürk.
Er zerrte Schlüter vom Sitz, stieß ihn zur Seite und nahm seinen Platz ein.
»Fort, schnell!!«, befahl Öztürk und warf den Motor wieder an.
Schlüter taumelte, drehte sich um. Scheinwerfer leckten schleimig durchs Geäst der Uferbüsche, tasteten gierig an der Felswand über ihnen entlang.
Schlüter wurde von einem Mann fortgestoßen, er stolperte ins Dunkle, das Licht der herannahenden Verfolger im Nacken, er wurde niedergedrückt auf die Knie in den Schatten der Felsen. Er sah nichts mehr.
Aber er hörte. Er hörte das Blockieren von Rädern im Schotter, er hörte das Aufheulen eines Motors, das Gebell der Gewehre, das Wimmern von Querschlägern. Er hörte Schreie. Schüsse. Stöhnen. Schlüter presste die Fäuste an die Ohren. Ein Schrei, ein verzweifelter Schrei, dessen Echo die Felswände hinaufhallte, dem ein letzter einsamer trockener Schuss, ein einziger, ein Ende machte. Und dann Schweigen. Nur noch das eiskalte Rauschen des Flusses, in dessen grauen Wassern der tückische Mond glitzerte.
»Habt ihr alles?«
Sie nickten, sie brauchten nichts mehr.
Auf den Sitzen des Fiat und auf ihrem Reisegepäck züngelten bläuliche Flammen. Der Wagen stand quer auf der Straße. Ein Bergrutsch, eine Halde von Geröll und Schlamm hatte dort nur einen Durchweg von gut zwei Metern Breite gelassen. Öztürk musste den Wagen als Blockade quer in die Lücke bugsiert haben. Damit waren die Verfolger gestoppt worden.
Die Flammen des brennenden Fiat zuckten auf den Felsen wider, aber Schlüter spürte nicht die Wärme des Feuers, sondern die segnende Hand des Dede auf seinem kahlen Kopf und die Abschiedsküsse der kleinen Greisin in seinem Gesicht, das sie gestern, unter der morschen Tür des Lehmhauses, mit beiden Händen zu ihrem herabgezogen hatte, auf beide Wangen hatte sie ihn geküsst, und er hörte ihre geflüsterten Worte.
»So eine verfluchte Scheiße!«, sagte Clever.
»Kommt!«, befahl Öztürk mit verzerrtem Gesicht und rasselndem Atem.
»Was mag sie gesagt haben?«, murmelte Schlüter und wischte sich die Tränen ab. »Was?«
53.
Clever kauerte, versteckt hinter Steinen, oberhalb der hell erleuchteten Anlegestelle von Pertek und sah hinaus auf den nächtlichen Euphrat, auf dem sich das matte Licht des Mondes spiegelte. Die Fähre lag noch drüben am anderen Ufer, mit ihren kleinen marsgrünen Lichtern. Um vier Uhr würde sie dort ablegen. Die Überfahrt dauerte eine knappe halbe Stunde. Um fünf Uhr würde sie von Pertek wieder abfahren. Zwischen zehn nach vier und zwanzig nach vier würde ein weißer Lieferwagen die Rampe zur Fähre hinunterfahren und diesseits der Verkaufsbuden, die in der Nacht geschlossen hatten, anhalten. Dann würde er die Kontrollstelle zweihundert Meter weiter oben, wo die Rampe begann, schon passiert haben. Der Fahrer würde den Wagen so rangieren, dass die Beifahrerseite im Dunkeln lag. Er würde aussteigen und die Tür öffnen und sich im Laderaum zu schaffen machen. Dann würde er sich vor die Fahrertür in das Scheinwerferlicht des Anlegers stellen und eine Zigarette rauchen. Und dies würde der Augenblick sein, in dem Clever und Schlüter hinter den Steinen hervorkriechen und im Schutz der Schatten und der Dunkelheit zum Lieferwagen schleichen und hineinkrabbeln
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