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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Leuten nach Elazıg gebracht, zu einem zweistöckigen Haus am Rande der Stadt, in dem sie in einer winz igen Stube mit zehn oder zwölf Leuten auf dem Fußboden gesessen und gegessen und Tee getrunken hatten, auf einem Tuch, alle gemeinsam aus den Schüsseln, man hatte nur einen Löffel, alles serviert von schweigenden, bis hoch zur Nase verschleierten Frauen, die nur mit niedergeschlagenen Augen ins Zimmer traten, ihnen nicht die Hand gegeben hatten und nach getanem Dienst sofort wieder verschwanden. Mitten in der Nacht. Die Männer behandelten die Frauen wie Luft. Schlüter hatte sich bei ihnen bedanken wollen, wie es sich gehörte, aber das war nicht möglich. Von den Besuchern erwarteten die Frauen, nicht anders behandelt zu werden als von ihren Männern. Einer der Männer sprach Deutsch. Schlüter hatte ihn nach den Geschehnissen von 1938 befragt; er wusste nichts davon. Aber er wusste Clevers Frage zu beantworten, was die beleuchtete Schrift am Anleger von Pertek bedeutete: Glücklich ist, wer sich ein Türke nennen kann. Der Spruch unter dem Bild im Büro des Englischlehrers.
    »Aber es wohnen doch überhaupt keine Türken im Dersim«, hatte Clever gesagt.
    »Eben«, antwortete sein Gastgeber. »Deshalb ja. Das ganze Land ist voll von diesem Spruch.«
    »Und wie findet ihr das?«
    »Entweder man regt sich auf und erschießt sie alle oder man regt sich nicht auf und ignoriert das. Glücklich ist, wer die Gedankenfinsternis erhellt.«
    Nach dem Essen hatten sie ihre Flucht fortgesetzt, den Rest der Nacht hindurch und den halben nächsten Tag. Sie hatten geschlafen in einem Haus an der Küste und waren in der folgenden Nacht mit einem Fischerboot nach Rhodos übergesetzt. Dort hatten sie sich neu eingekleidet und ihre verdreckten Sachen weggeworfen, auch den vollgesauten Mantel, und waren mit dem Flugzeug über Athen nach Hamburg zurückgekehrt.
    Und nun stand Schlüter hier, in nagelneuen Klamotten, die merkwürdig wirkten, weil er sie auf Rhodos gekauft hatte. Er blickte an sich herunter wie an einem Kleiderständer. Er war müde. Er hatte zu viel erlebt, um etwas davon erzählen zu können. Er sehnte sich nach seiner Frau und einer Tasse Tee, nicht nach einem dieser türkischen Fingerhüte, sondern nach einer Tasse, die diesen Namen verdiente. Aber Christa war noch nicht zu Hause, er hatte es nicht geschafft, sie anzurufen, und außerdem hatte er keine Zeit.
    »Was ist heute für ein Tag?«
    »Donnerstag, der 30. März 1995.«
    »Was, Donnerstag schon?«, rief Schlüter aus.
    Der letzte Wochentag, den er sich gemerkt hatte, war Montag gewesen. Diesen Tag hatten sie noch in Ovacık verbracht. So viel war sicher. Dann waren sie Dienstag an der Küste angekommen und Mittwoch auf Rhodos gelangt. Die Nacht in Athen. Heute Morgen Hamburg. Mit dem Taxi hierher. Stimmt.
    »Stimmt«, sagte er.
    Er drehte sich um, ging aufs Klo und musterte sich im Spiegel, um herauszubekommen, wie er aussah. Tränensäcke unter den Augen. Graues Gesicht, trotz der Sonnenbräune. Natürlich die Glatze. Pessimistische Mundwinkel. Die Falten an der Nase vielleicht noch tiefer. Ein vergrämtes Gesicht. Ein hässlicher Mann mit schlechter Laune, der keine Lust auf Leben hatte. Was Wunder, wenn neben einem Leute erschossen wurden und man selbst war der Anlass dafür. Das war die größte Scheiße, die er je erlebt hatte. Er hatte ein kleines Problem gelöst und drei neue riesengroße geschaffen. Drei Tote. Aber er war heil zurück und Clever auch. Ohne den wäre er nicht bis hierher gekommen. Clever hatte ihm das Leben gerettet. Und jetzt? Wie sollte es weitergehen?
    Schlüter ging in sein Arbeitszimmer. Er sah die Akten auf der Ablage und fragte sich, was er mit ihnen zu schaffen hatte, wie sie sich in sein Leben geschlichen hatten. Hatte er selbst etwa das ganze Papier produziert? Er griff in seine Taschen und leerte sie aus, legte den Völkermordstein vor sich auf die abgeschabte Platte des Schreibtisches.
    Er setzte sich. Der Stuhl knarrte. Das Geräusch erinnerte ihn an Emin Gül und seine Lederjacke. Er zog sich den Telefonapparat heran, suchte in seinem Notizbuch und wählte Osman Baruts Nummer.
    »Man of justice, where are you?« Osmans Stimme zitterte vor Freude und Aufregung. »I thought you almost dead, my friend!«

    Schlüter erklärte, er sei gesund nach Hause gelangt, es sei eine gute Reise gewesen, er sei sehr zufrieden. Leider habe er keine Möglichkeit gehabt, sich vorher zu melden.
    »Did you have problems?«, fragte Osman

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