Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
sich an der Rampe in die Schlange gestellt. Clever hoffte, es würden noch mehr werden.
    Als die Fähre so nah war, dass er die einzelnen Autos erkennen konnte, bemerkte er zuerst den weißen Lieferwagen. Langsam rollte das Fahrzeug die Rampe hinab.
    Und dann den Soldaten. Er hatte seine Waffe umgehängt und schlenderte von der Kontrollstelle zum Anleger, als wollte er sich die Beine vertreten. Der Lieferwagen fuhr einen Bogen und blieb mit Sicht auf die Beifahrerseite stehen.

    Aber der Soldat.
    Er hatte den Anleger erreicht, blickte dem Schiff entgegen, schaukelte auf seinen Beinen hin und her, als mache er Dehnübungen, drehte sich um und steuerte direkt auf Clever zu, als wüsste er, wer sich da versteckte. Laus mich der Affe, dachte Clever. Als der Soldat bei den beleuchteten Buchstaben angekommen war, drehte er sich wieder um und setzte sich, Clever den Rücken zudrehend, halb ins Dunkle auf einen großen Stein. Kurz darauf roch Clever die Zigarette und sah ihre Glut. Hau ab, du Blödmann! Der Blödmann saß genau zwischen Clever und dem Lieferwagen, der Fluchtweg war versperrt.

    Die Fähre hatte noch fünfzig Meter bis zum Anleger.
    Clever tastete umher. Lehm, winzige Steinchen und große Brocken fühlte er. Nichts Passendes. Sie mussten an Bord. Wenn sie bei Tageslicht noch hier lagen, waren sie geliefert.
    Auf Händen und Fußspitzen schlich er rückwärts, bis sein rechter Fuß an Schlüters Seite stieß. Clever tastete Schlüters Manteltasche ab, fand den Völkermordstein und zog ihn heraus.
    »Was willst …«
    Er hielt Schlüter den Mund zu.
    Der Fahrer des Lieferwagens stand vor seinem Fahrzeug und rauchte. Der Soldat war mit dem Rauchen fertig.
    Die Fähre drehte sich für das Anlegemanöver.
    Clever machte sich an den Rückweg. Es kam auf jede Bewegung an. Kein Geräusch. Jetzt hoffte er, der Mann würde sitzen bleiben. Wer weiß, wohin er sich stellen würde, wenn er jetzt aufstand. Bleib sitzen, du Blödmann! Bleib sitzen! Mit einem steinernen Knirschen schob sich die Rampe der Fähre auf den Anleger, lang hallte das hässliche Geräusch gegen den Hang, und noch bevor es ausgeklungen war, hatte Clever seine Feder gespannt und sich schnell wie ein Kastenteufel zu voller Länge aufgerichtet. Er holte aus und hieb dem Soldaten den Stein an die Schläfe. Mit einem Seufzen sank er zur Seite.
    Vorsichtig zerrte Clever den Riemen von der Schulter des Soldaten und schob das Gewehr fort. Dann zog er ihm den Gürtel aus der Uniform und fesselte damit seine Hände auf dem Rücken. Als er fertig war, spürte er Schlüter neben sich.
    »Ist er …?«
    »Dieser dumme Komantsche schläft nur«, flüsterte Clever beruhigend.
    »Sicher?«, zweifelte Schlüter.
    Clever tastete nach dem Handgelenk des Soldaten.
    »Sicher«, sagte er.
    »Wie hast du das gemacht?«
    »Mein Jagdhieb«, sagte Clever.
    Er nestelte sein Halstuch ab und knotete dem Soldaten daraus einen Knebel, zuletzt fixierte er mit den Schnürsenkeln seine Füße. Dann schleifte er ihn, bis er so lag, dass man ihn bei Tageslicht sehen würde. Und ganz zum Schluss trug Clever das Gewehr zwanzig Meter fort und schob es hinter einen Felsen. Gewehre waren das Letzte, was er anfassen mochte. Womöglich funktionierten sie.
    Die Autos fuhren von der Fähre, und wenn sie sich beeilten, konnten sie es noch schaffen. Clever nahm Schlüter bei der Hand.
    »Bücken!«, befahl er. »Und leise!«
    Den Stein behielt er fest in seiner Faust, einstweilen. Als sie den Lieferwagen erreicht hatten, drehte Clever sich um. Ne mutlu türküm diyene, sagte die steinerne Schrift am Hang von Pertek.
    »Ne mutlu türküm diyene«, murmelte Clever.

54.
    »Wie sehen Sie denn aus?«
    Schlüter stand in der Tür zum Schreibzimmer seines Büros und Angela starrte ihn mit offenem Mund an wie einen Wiedergänger. Tja, das würde ich auch gern wissen, dachte er langsam. Es war lange her, dass er sich bewusst in einem Spiegel betrachtet hatte.
    »Wo kommen Sie her?«
    Er kam direkt aus dem Krieg. Er war ein Kriegsheimkehrer. Er war kurz hintereinander in zwei Schießereien verwickelt worden. Er hatte über einen Völkermord Dokumente gesammelt, deren Inhalt sein Fassungsvermögen überstiegen und die ihm eine Verantwortung auferlegten, der er nicht gewachsen war. Sein Leihwagen war verbrannt. Er war illegal aus der Türkei geflüchtet.Wahrscheinlich suchte man dort nach ihm. Der Unbekannte hatte ihn und Clever im Lieferwagen über den Euphrat geschmuggelt und noch in der gleichen Nacht zu

Weitere Kostenlose Bücher