Paragraf 301
hätten kein Recht darauf, die Türkei in Misskredit zu bringen. Seinen Widerstand habe Emin Gül zeigen wollen, gegen diese Leute, die eigentlich gar keine richtigen Menschen seien, denn ein Mensch sei nur, wer eine Ehre habe, und Ehre habe nur, wer sich ehrenhaft benehme, aber ein Alevit benehme sich nicht ehrenhaft. Aleviten seien schmutzig und unmoralisch, der Religion stünden sie fern, sie müssten eigentlich erst einmal Christen werden, bevor sie Muslime werden könnten. Und außerdem, was gingen ihn, Kemal Kaya, die krummen Gedanken verruchter Rotköpfe und seldschukischer Heiden an?
Rotköpfe? Seldschuken?
»Haben Sie Rushdie denn gelesen?«, fragte Schlüter stattdessen. Indische Engländer oder englische Inder gehörten nicht in sein Einzugsgebiet.
Kaya bekam große Augen, sein Bart sträubte sich, seine Augenbrauen zitterten und er schüttelte heftig den Kopf: »Nein, wie kommen Sie darauf? Bestimmt nicht! Und ich werde es niemals lesen! Ich spreche noch nicht einmal den Namen dieses Verbrechers aus.« Er streckte beide Hände abwehrend vor sich und wedelte damit über den blauen Plastikblumen herum. Dieses Buch könne er als gläubiger Mensch nicht lesen, es sei ein volksverhetzendes Buch, das eigentlich nicht hätte gedruckt werden dürfen. Er habe schon oft gehört, die Freiheit in diesem Land werde so verstanden, dass sie die Freiheit des Andersdenkenden sei, aber warum gelte diese Freiheit nur für diesen Brunnenvergifter aus Indien und nicht für eine Milliarde Muslime? Warum genieße jemand, der unter die Gürtellinie ziele, den Beifall der Gelehrten im Westen? Seien denn nicht zu Recht in Deutschland seit den Nazis volksverhetzende Bücher verboten? Er, Kemal Kaya, habe gelernt in diesem Land – »und ich lebe seit über zwanzig Jahren hier!« –, dass Meinungsfreiheit dort ihre Grenze habe, wo ihre Anwendung ihre Grundlagen zerstöre.
Als der Mann schwieg, fingerte Schlüter unschlüssig an seinem Glas. Schließlich nahm er sich zusammen. »Aber wie können Sie das denn beurteilen, wenn Sie das Buch nicht gelesen haben?«
Es reiche aus, dass der Imam der Gemeinde mit Kollegen gesprochen habe, die hätten sich gewisse Passagen des Sudelbuches schicken lassen und unter größter geistiger Pein gelesen. Er selbst müsse das Buch ebenso wenig lesen wie ein Christ das nackte Paar sehen müsse, das neulich auf dem Hochaltar im Kölner Dom demonstriert habe …
Der Türke hielt inne: »Und wie können Sie uns beurteilen, wenn Sie den Koran nicht gelesen haben? So können Sie doch gar nicht verstehen, was dieser Engländer aus Indien bekämpft! Uns ist es verboten, die in Ehren gehaltenen Persönlichkeiten der Andersgläubigen zu beleidigen! Meint ihr, Angriffe auf unseren Propheten seien zulässig, nur weil ihr es euch angewöhnt habt, euren Jesus zu besudeln?«
Keinen Unterschied machen wir zwischen einem von ihnen.
Schlüter führte ein theologie- und religionsfreies Leben, er hatte keine Freude an theologischen Diskussionen, seit er in Husum konfirmiert worden war, von einem Pastor, der die Lehren der Bergpredigt mittels Ohrfeigen verbreitete und ihn, den seinerzeit gewiss unschuldigen, ja noch nicht einmal strafmündigen Schlüter der Erbsünde bezichtigt hatte. Schlüter war aus der Kirche ausgetreten. Jetzt fühlte er sich Kaya unterlegen. Es war Zeit, zu den Fakten zurückzukehren.
»Und dann – was ist mit Ihrem Neffen geschehen?«
Emin Gül sei nicht mehr dabei gewesen, als das Hotel zu brennen begonnen hatte, wiederholte Kaya, er sei zur Arbeit gegangen in Yahya Bey, in ein Geschäft für gebrauchte Möbel, nicht weit von der Gökmedrese, wo es übrigens den besten türkischen Honig in der Stadt zu kaufen gebe, »da sollten Sie mal hingehen, fragen Sie nach Achmed, so ein Kleiner, wissen Sie, sein Honig …!« Später am Abend sei Emin aber zurückgekehrt, aus reiner Neugier, denn so eine Demonstration für den Glauben hatte die Stadt noch nicht gesehen.
Gül hatte zu den Leuten gehört, die sich Stunden nach dem Ausbruch des Feuers auf dem Platz vor dem Hotel aufhielten, nachdem die Schreie verstummt, das Feuer niedergebrannt war und aus der Ruine nur noch ein böses Knistern und der höllische Gestank verbrannten Menschenfleisches drang. Und jetzt erst waren die Rettungskräfte angerückt, als es nichts mehr zu retten gab.
Emin Gül war festgenommen worden, auf die Gendarmerie geführt, geschlagen, verhört und vor Gericht gestellt.
Zwanzig Jahre für eine Demonstration.
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