Paragraf 301
entschieden wurde.
»Und er ist zugleich Vorsitzender des Geschichts- und Heimatvereins …«, ergänzte die Gräfin.
»… sodass er für beide Seiten erklären kann«, sprach Spindelhirn die Gedanken seiner Mandantin aus. »Unter diesen Umständen empfiehlt sich ein Erbvertrag. Ein schwieriges Erbe kann man ausschlagen. Hat man einmal einen Erbvertrag unterschrieben, geht das nicht mehr. Man bindet sich für alle Zeit. Übrigens wäre ein Testamentsvollstrecker hilfreich.«
»Daran habe ich bereits gedacht, Spindelhirn. Giselbert von Brunkhorst-Rothenfels.«
Der hagestolze Großgrundbesitzer von raubritterlichen Gnaden, inzwischen gut in den Siebzigern, residierte nördlich von Hemmstedt. Die beiden – er und Sigunde von Talheim – pflegten eine distanzierte, aber kultivierte Freundschaft in der dritten Generation beider Häuser, die sich in winterlichen Banketten dies- und jenseits von Hemmstedt auslebte. Spindelhirn sah die rothenfelsschen Flurkarten vor sich, große Blätter, auf denen die Marken des Herrschers der Marschen nördlich von Großenborstel kenntlich waren, von der Geest bis an die Elbe, und die Grundbücher, in die er in den letzten Jahren mit Geheiß und Unterschrift des Freiherrn Grundschulden in hohen Summen hatte eintragen lassen. Der Freiherr überzog sein Budget, auch er. Doch im Gegensatz zu Dieken, der sich seine Position selbst erworben hatte, lebte Rothenfels von geraubter Substanz.
»Die beiden werden in einer Stunde hier sein«, fuhr die Gräfin fort. »Kaffee?«
»Später«, antwortete Spindelhirn, denn die Gräfin hasste nichts mehr als weiches Wohlleben; sie hatte sich nichts geschenkt und lebte nur auf großem Fuß, weil ihre hohe Geburt dies forderte. Sie trug ihren Reichtum wie andere Arbeitsstiefel.
»Ich werde meine Sekretärin holen«, erklärte Spindelhirn und machte Anstalten, sich hochzustemmen.
»Lassen Sie, Spindelhirn«, unterbrach die Gräfin, griff den Stock, der an ihrem Sessel lehnte und stieß ihn gegen den blechernen Paravent vor dem Kamin. Die Mamsell streckte ihren feisten Kopf durch die Tür.
»Frau Dr. Spindelhirn!«, verlangte die Gräfin. Nur wenigen war bekannt, dass die Sekretärin der Nachtschicht zugleich die Ehefrau des Advokaten war.
Nach vierzig Minuten war der Erbvertrag entworfen und beim Kaffee, den man anschließend gemeinsam mit dem Freiherrn Giselbert von Brunkhorst-Rothenfels und dem Oberkreisdirektor Dietrich Dieken einnahm, fand man wenig zu ändern. Die Herren gaben sich informiert und vorbereitet.
Wie die Gräfin befohlen hatte, vermied Spindelhirn einen Hinweis auf den möglichen Pflichtteilsanspruch des Sohnes, er hatte, zu seiner eigenen Sicherheit, nur eine wolkige Klausel in den Vertrag aufgenommen, wonach der Notar auf die erbrechtliche Bedeutung des Vermächtnisses umfassend hingewiesen habe, und die Parteien versicherten, alles verstanden zu haben. Spindelhirn las den Vertrag mit näselnd monotoner Stimme vor.
»Fragen?«, fragte er, scharf aufblickend.
Keine Fragen. Der Emporkömmling und der abgehalfterte Adlige schüttelten einträchtig den Kopf. Umstandslos wurde unterzeichnet.
»Nun ist alles bestens geregelt«, erklärte die Gräfin zufrieden und ließ Cognac reichen.
Auch die Herren Testamentsvollstrecker und Oberkreisdirektor ergingen sich, so weit es der bedrückende Anlass der Zusammenkunft zuließ, in aufgeräumter Stimmung. Spindelhirn nippte nur an seinem Glas, er habe noch Termine, entschuldigte er sich. Es entging ihm nicht, wie die Besucher sich verstohlen umsahen, als seien sie schon die neuen Herren des Schlosses. Auch schien es dem Advokaten, als habe die Gräfin dies bemerkt, aber sie lächelte nur spöttisch, wie es ihre Art war.
Sodann erschien der Pastor zum seelsorgerischen Zwiegespräch, was Spindelhirn Gelegenheit zum umstandslosen Abschied gab und auch die Herren Oberkreisdirektor und Brunkhorst-Rothenfels zum Aufbruch nötigte.
Das Schicksal konnte seinen Lauf nehmen. Es zögerte nicht, denn drei Tage später war die Gräfin tot.
8.
Es war Sonntag, aber darauf kommt es nicht an, denn für beide war jeder Tag gleich, für den grimmigen Bauern Heinsohn, seitdem er allein auf seinem Hofe in Engelsmoor bei Hollenfleth hauste wie ein Eremit, und für Veli Adaman aus Ovacık am Fuße des Munzurgebirges im Osten Anatoliens, seit er seine Heimat verlassen hatte.
Heinsohn saß auf Strohballen in der offenen Tür des Boxenlaufstalles, und während hinter ihm die Kühe im Silo schnauften,
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