Paragraf 301
Gedanken mit einem Knurren, zog sich am Geländer empor und klingelte, mit vor Anstrengung verzerrtem Mund, aus dem sein einziger Zahn ragte, der dem lebensfeindlichen Biotop noch widerstand.
Die alte Mamsell ließ ihn ein und nahm ihm den Mantel ab. Sie diente ihrer Herrin länger als Spindelhirn, und das war seit immerhin fast dreißig Jahren. Sie sah gesund und fett aus wie immer. Spindelhirn grüßte spärlich, Höflichkeit irritierte ihn. Er hasste gesunde Menschen, sein ungerechtes Schicksal und seinen verkrüppelten Körper, weshalb er ein gefürchteter Gegner auf dem juristischen Schlachtfeld war.
Spindelhirn kannte den Weg. Er durchquerte den kleinen Vorflur und gelangte in den großen Salon mit dem blauen Kachelofen in der Ecke, der mit Kinderengeln, Rittern und nackten Frauen, die winzige Apfelbrüstchen hatten, verziert war, als hätte der Künstler sich nicht getraut, frivol zu sein. Spindelhirn achtete der nackten Frauen nicht, denn das Frivole hatte er aus seinem Leben ebenso verbannt wie die Freude. Aus den der Tür gegenüberliegenden Fenstern blickte man weit über die Elbmarschen hin, über gepflügte Felder und Weiden und Obstplantagen. Das Schloss stand auf dem letzten Ausläufer der Geest. Hier hatte der Graf aus Schweden residiert und auf seine Latifundien herabgeblickt, deren Herr und Ausbeuter er gewesen war.
Die Gräfin empfing Spindelhirn links neben dem Salon im kleinen Comptoir, wie sie den Raum nannte, der nichts als ein Büro war, ausgestattet mit einem Sekretär, Regalen, Ordnern und zwei schweren Lehnstühlen. In einem saß die Gräfin, matt lächelnd, ein Plaid über den Knien und ein Kissen im Rücken. Zärtlich rieb sie den geschnitzten Löwenkopf an der Armlehne. Eine greise Frau, leicht und trocken wie Herbstlaub, bevor es der Wind fortträgt.
»Guten Tag, Rechtsverdreher, ich grüße Sie!«, hieß sie Spindelhirn mit leiser, aber fester Stimme willkommen, als dieser in der Flügeltür erschien.
»Ich wünsche einen guten Tag«, nuschelte der Notar widerwillig, während er wieder einmal überlegte, ob die Grande Dame des Landkreises mit Handschlag oder Handkuss zu begrüßen war. Er hasste es, sich Menschen über freies Gelände zu nähern, seine Behinderung zur Schau zu stellen, die seine Schritte Tag für Tag beschwerlicher machte.
»Keine Umstände, Spindelhirn«, verzichtete die Gräfin auf Formalitäten. »Setzen Sie sich.« Sie winkte ihn zu dem anderen Sessel.
»Kommen wir zur Sache«, verlangte die alte Dame, noch bevor Spindelhirn Platz genommen hatte, die Mamsell fortscheuchend. »Ich werde sterben, sehr bald. Ich habe Sie rufen lassen, um mein Testament zu machen.« Sie wollte höfliche Reden vom fernen Tod nicht hören. Sie hatte immer gewusst, was sie tat. Sie würde es auch bei ihrer letzten Tat, dem Sterben, wissen. »Ich habe Sie kommen lassen, weil Sie der hinterhältigste Advokat sind, der hier in der Gegend zu finden ist … – Schon gut, sparen Sie sich das, Spindelhirn, Sie wissen, dass es stimmt.«
Spindelhirn ließ sich wieder zurücksinken und schwieg, während kalter Stolz in seinen grauen Augen blitzte. Er strich sich den speckigen Schlips vor dem Bauch glatt und stopfte ihn unter den schmalen Gürtel, der eine mausgraue Hose hielt. Die unteren Knöpfe seines Hemdes standen auf, sodass seine wollene Unterhose zu sehen war, die bis über den Nabel reichte wie bei Kindern, die sich nicht erkälten sollen.
»Ich habe einen Sohn«, erklärte die Gräfin.
Erstaunt hob Spindelhirn die Brauen und entblößte dabei seinen Zahn.
»Davon wissen Sie nichts.« Sie stellte es fest.
Spindelhirn schüttelte den Kopf. Er hatte noch nicht einmal derlei Gerüchte gehört, die sonst durch dickste Schweigemauern drangen. Die Gräfin musste den Sohn sehr früh aus dem Weg ihres Lebens geräumt haben.
»Wenn ich gestorben sein werde, ist er Alleinerbe. Richtig?«
Spindelhirn nickte. »Nach gesetzlicher Erbfolge – und wenn Sie nur den einen haben, ja.«
»Nun, er soll so wenig wie möglich bekommen.« Scharf schnitten ihre Worte durch den hohen Raum.
Spindelhirn hörte den Zug vorbeibrausen. Die einzige Bahnlinie führte unmittelbar am Schloss entlang, am Fuße des Geestberges.
Die Witwe schwieg und wartete auf Spindelhirns Vorschläge, wie das zu bewerkstelligen sei.
»Sie können ihn enterben. Ich meine – jemanden anders als Erben einsetzen. Aber das heißt nicht, dass Ihr Sohn nichts bekommt. Er ist pflichtteilsberechtigt.«
»Und – was
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