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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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gewöhnen, und sonst war es mit Bauer Heinsohns Gesundheit nicht schlecht bestellt. Jedenfalls fühlte er sich mit zweiundsechzig nicht wie einer, der in Rente gehen muss und zum alten Eisen gehört.
    »Du willst mich wohl billig auf Staatskosten entsorgen, was?«, hatte er gefragt.
    Der Sohn hatte das abgestritten und seine Freundin vorgeschoben. Die käme nicht mit auf den Hof, wenn das mit der Übergabe nicht klar geregelt wäre. Kindergärtnerin war die. Und wollte ihren Beruf nicht aufgeben. Dann war das auch keine Frau für den Hof und dann hatte sowieso alles keinen Zweck. Auch das hatte er dem Sohn gesagt, womit das Gespräch beendet war. Endgültig.
    Kurz darauf war der Sohn fortgegangen. Vom Postboten, einem Mann mit bananenbreitem Grinsen, der jeden Tag die neuesten Wetter- und andere Nachrichten brachte, hörte Bauer Heinsohn, der Sohn sei ins Alte Land gegangen und würde sich dort verdingen, aber nicht in der Landwirtschaft, sondern in einem Gartenbaubetrieb. Sein Sohn lege Gärten an und pflastere Wege und habe jeden Tag Feierabend und an den Wochenenden frei. So war das mit der jungen Generation heute. Die meisten taugten nicht mehr für die Arbeit auf dem Hof, sie wollten Urlaub haben und nach Mallorca fliegen. Als Milchbauer hatte man die Fünfunddreißig-Stunden-Woche spätestens mittwochs zum Frühstück rum und der längste Urlaub dauerte von zehn Uhr vormittags nach dem Melken bis vier Uhr nachmittags vor dem Melken. Aber nur, wenn sonst nichts zu tun war, und das gab es allenfalls im Winter und im Sommer nach dem ersten Schnitt und vor der Getreideernte, ein oder zwei Wochen lang.
    Also hauste der grimmige Bauer Heinsohn seit über zwei Jahren allein auf dem Hof und wollte keinen sehen. Außer dem Postboten kam jeden zweiten Tag der Milchwagen und holte die Milch. Einmal im Monat erschien der Milchkontrolleur, sah ihm beim Melken zu und zog seine Proben. Dessen Gesabbel war nicht zum Aushalten. Letztens hatte der Mann von einem Schwarzarbeiter erzählt, vermutlich einem Illegalen aus der Türkei, der in Hemmstedt einen Mann vom Arbeitsamt vom Gerüst gestoßen haben sollte. Bei einer Kontrolle. Tot sei der Mann, mausetot. Bauer Heinsohn hatte nicht geantwortet. Von Toten wollte er nichts hören.
    Er molk nun jeden Tag zwei Mal seine vierzig Kühe allein. Nachmittags vor dem Melken setzte er sich auf ein paar Strohballen unter das Tor des Boxenlaufstalles, rauchte eine Pfeife, trank ein paar Schlucke Mariacron und versuchte, eine Viertelstunde lang über nichts nachzudenken, während seine Knochen summten. Das war seine einzige richtige Pause, abgesehen von der Zeit, die er zum Essen brauchte. Essen war wie eine unangenehme Pflicht, denn es hielt ihn nur von der Arbeit ab. Bratkartoffeln, Spiegeleier, Speck, Steak. Brot, Butter, Wurst. Nach dem Melken fütterte er und arbeitete weiter bis weit in den Abend, bis er sicher war, dass er im Schlaf versinken würde wie ein Stein im Wasser und für ein paar Stunden Ruhe hatte vor sich selbst. Er schlief einen erschöpften traumlosen Schlaf, in seiner schmutzigen, mit Heu- und Strohhalmen besudelten Schlafstatt, neben sich die leere und verstaubte Hälfte der Frau. Im Morgengrauen erwachte er, sobald sein Körper die knappe Kraft für einen neuen Tag getankt hatte, stand auf und tat seine Arbeit wie ein Uhrwerk.

    Jedenfalls war heute, an einem dieser endlosen Arbeitstage, während Bauer Heinsohn seine einzige Pause machte und seinen schmerzenden Rücken an den Strohballen lehnte, ein Mann den Weg von der Straße her gekommen. Als er sich näherte, erkannte Bauer Heinsohn, dass der Mann ein Ausländer war. Heinsohn hatte die Flasche mit dem Weinbrand zwischen die Strohballen geschoben und gewartet, bis der Fremde vor ihm stand. Er war ziemlich groß, aber schmal, nicht mehr jung, aber auch noch nicht richtig alt, hatte eine karierte Schiebermütze auf dem Kopf und ein Gesicht wie nasse Brikettasche, mit einem weißen Schnurrbart.

    »Guten Tag«, sagte der Fremde und lächelte höflich.
    Bauer Heinsohn räusperte sich, um den Kloß in seinem Hals zu prüfen. Wann hatte er eigentlich zuletzt gesprochen?

    »Goden Dach«, krächzte er endlich, nickte ohne Freundlichkeit und sah sich die glänzenden schwarzen Schuhe des Besuchers an.
    »Ich wollte Sie fragen, ob Sie Arbeit haben?«, sagte der Fremde. »Ich könnte Ihnen einen jungen Mann schicken.«
    »Arbeit?! De he’ck ’n gah’n Dach«, nuschelte Bauer Heinsohn unwirsch zwischen Zahnlücke und

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