Paragraf 301
bedeutet das?«, fragte sie ungeduldig.
»Das bedeutet, dass er einen Anspruch auf Geld hat, in Höhe der Hälfte des gesetzlichen Erbteils. Da der gesetzliche Erbteil einhundert Prozent ist, stünde ihm ein Geldanspruch auf die Hälfte vom Nachlasswert zu. Das wäre sein Pflichtteil.«
»Der Bastard soll nicht so viel kriegen!«
Spindelhirn zuckte zusammen, als gälte ihm das böse Wort. Ein illegitimes Kind? »Das Gesetz wägt das Blut schwerer als den Willen«, sagte er kalt. »Abkömmlinge haben Anspruch auf den Pflichtteil. Gleich ob sie ehelich sind – ähem – oder nicht.«
»Es gibt keine Möglichkeit?«
Spindelhirn, dem alle Winkelzüge der Jurisprudenz geläufig waren, zögerte, um die Wirkung seiner Worte zu steigern. »Vielleicht doch …«, begann er schließlich. Wer war dieser verhasste Sprössling der hoch angesehenen Gräfin?, fragte er sich. Wo mochte er leben? Trug er ihren Namen?
»Reden Sie, Spindelhirn!« Die Gräfin hielt die Augen geschlossen, als koste der Anblick des Advokaten sie zu viel Kraft. »Meine Zeit ist kostbar. Ich werde morgen oder übermorgen sterben.«
Ist es möglich, dass man sein Ende so genau kommen sieht? So todkrank war die Alte doch nicht? Spindelhirn dachte an seinen eigenen Tod, der so gewiss wie der tägliche Untergang der Sonne war und ihn eines Tages aus dem Kerker seines Körpers befreien würde. Er wünschte, er würde ihn unversehens holen, ihn ohne Vorwarnung und Schmerz von Pflicht und Fron befreien, jeden Tag in drei Schichten für dreißig Angestellte zu arbeiten und die vielen Prozesse zu führen, die seinen Hass nährten.
»Es bleibt das Vermächtnis«, erklärte er. »Sie setzen Ihrem – ähem – gesetzlichen Erben ein Vermächtnis aus. Eine Summe Geld, die …«
»Wie viel, Spindelhirn?«
»… man so hoch bemisst, dass sie den Verstand ausschaltet, und gleichzeitig so niedrig, dass das Erbe im Wesentlichen gerettet werden könnte«, näselte Spindelhirn mit feuchten Lippen.
»Das klingt gut, Spindelhirn, aber … Sie sprechen im Konjunktiv?«
»Um die Höhe des Vermächtnisses zu bestimmen«, flüsterte Spindelhirn und hüstelte verschlagen, »muss man wissen, in welchen Verhältnissen der Erbe lebt, was für ein Mensch er ist, wodurch er sich beeindrucken lässt, kurz …«
»Man müsste ihn kennen, nicht wahr?«, sprach die Gräfin für den Winkeladvokaten weiter und lächelte spöttisch.
»Nun – ja.«
» Ich kenne ihn«, wies sie den Advokaten ab. »Und insbesondere kenne ich seinen Vater. Das reicht. Das Vermächtnis soll 100.000,– DM betragen.«
Spindelhirn resignierte und fand schnell zurück zu juristischem Denken: »Das Geld muss dem Erben sofort ausgezahlt werden.«
»Und wenn es seinen Verstand nicht ausschaltet …?«
Spindelhirn zuckte mit den Schultern. »… und er trotzdem den Pflichtteil verlangt? Dann kann man nichts machen. Außer zahlen.«
»Das behalten Sie für sich, Spindelhirn«, verlangte die Gräfin mit schmalen Augen. »Das fällt unter Ihre Verschwiegenheitspflicht, verstanden? Ich will, dass dieses Schloss, nachdem ich fort bin, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Ein Kulturschloss soll es werden, ich denke an Ausstellungen, Musik, Lesungen und so weiter. Ich werde meinen Besitz dem Geschichts- und Heimatverein vermachen. Und der Landkreis wird für die Kosten geradestehen, die der Verein nicht tragen kann.«
Spindelhirn dachte nach. »Entschuldigen Sie, verehrte Gräfin, das ist ein schwieriges Erbe. Wertvoll einerseits, äußerst wertvoll, allein Ihre Möbel …«
»… und die Bibliothek meines Mannes, ich weiß«, unterbrach die Gräfin und wies zum offenen Durchgang nach nebenan, wo in raumhohen Regalen die Rücken der Bücher glänzten. »Sehr wertvoll. Und es finden sich sehr seltene Werke darin. Aber zerbrechen Sie sich nicht den Kopf des Heimatvereins, Spindelhirn. Einiges wird man verkaufen müssen. Es ist alles besprochen. Sie kennen Dieken? Er ist ein großer Kulturfreund.«
Spindelhirn nickte. Er kannte alle Gerüchte über den smarten Oberkreisdirektor und wusste genug, um sich überlegen zu fühlen. Gerade vor zwei Wochen hatte sich der Chef der Hemmstedter Sparkasse bei Spindelhirn erkundigt, wie seine Bank sich gegen die unbescheidenen Kreditwünsche des Oberkreisdirektors wehren konnte, der qua Amt im Vorstand der Bank saß. Spindelhirn hatte dem Sparkassenchef geraten, künftig dafür zu sorgen, dass Dieken die Sitzung verließ, wenn über seine Kreditanträge
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