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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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verlangten Essen, und wenig später erschien das Militär, zündete die Häuser an und jagte die Familien fort.
    Adaman räumte die Gläser der Besucher zur Spüle.
    »Weißt du, dass es oben in deinem Tal keinen einzigen Baum mehr gibt?«, fragte er. »Ich war im letzten Jahr da. Sie haben alles niedergebrannt. Die Nussbäume, die Aprikosen-, die Birnenbäume, die Zedern – alles weg. Die Berge sind nackt, von den Häusern existieren nur noch Steine … Geh fort vom Fenster!«
    Cengi zuckte zusammen und zog sich zurück in das Dunkel des Raumes.
    »Werner«, brummte Adaman. »Er schleicht überall herum. Die Nacht ist seine beste Zeit.« Er begann abzuwaschen.
    »Willst du wirklich ein Zazaistan?«, fragte Heyder Cengi unsicher.

    »Wo denkst du hin«, lachte Adaman. »Noch nie hat ein Zaza ein Zazaistan gefordert. Es sind die Kurden, die sich uns einverleiben wollen. Sie ziehen uns mit ihrer Forderung in ihren Krieg. Ich kann es nicht leiden, wenn die Kurden von der PKK uns zu Kurden machen und unser Land für sich in Anspruch nehmen, verstehst du? Hast du gemerkt, dass sie mit mir Kurdisch reden wollten? Sie verlangen, dass du auch Kurdisch sprichst, genauso wie die Türken von dir verlangen, dass du Türkisch sprichst.«
    Er war an das Fenster getreten. Draußen war es dunkel geworden und er sah nur sein eigenes zweifelndes Gesicht, und das silberne Kettchen um seinen Hals, an dem das Schwert Alis baumelte, dem seine ganze Friedfertigkeit nichts genützt hatte, denn man hatte ihn trotzdem ermordet.

    »Die Tür«, sagte Cengi, stand auf und stellte sich neben seinen Onkel. »Sie war offen vorhin. Du musst sie abschließen, immer, von jetzt an.«
    Sie betrachteten ihre verwaschenen Spiegelbilder im Fenster: zwei Fremde in einem Land, das nichts von ihnen wusste; die keine Vergangenheit und keine Zukunft hatten.
    Mit einem Ruck zog Adaman die Vorhänge zu.
    »Jetzt trinken wir noch einen Tee«, sagte er trotzig, lachte wieder und fügte hinzu: »Xatere semah!«

7.
    Gräfin Sigunde von Talheim ließ bitten. Sie wollte die weltlichen Dinge regeln, bevor sie sich auf die letzte Reise begab. Sie war stets eine fordernde Frau gewesen, der Konventionen nichts bedeuteten, wenn sie auch von Adel war und dies betonte.
    Dr. Spindelhirn versah Mandantentermine nur ausnahmsweise am helllichten Tag; er war berühmt dafür, in drei Schichten zu arbeiten: morgens die Gerichtstermine, nachmittags die Diktate, abends die Mandanten. Nur wenn er rund um die Uhr schuftete, konnte er seine dreißig Angestellten lückenlos beschäftigen. Doch ließ er sich an diesem nasskalten Novembertag des Jahres 1994 von seiner Chefsekretärin, die ihn vorzugsweise in der Nachtschicht bediente, nach Lieth chauffieren, einem Ort, der kurz hinter Hemmstedt in Richtung Hamburg an der meistbefahrenen Bundesstraße der Republik lag und in der Schwedenzeit Katharinenburg geheißen hatte, nach der gleichnamigen Frau des schwedischen Generalgouverneurs, der Urahnin der Gräfin.

    Sie warteten den Gegenverkehr ab, der an diesem Freitag besonders dicht war, endlose Blechkolonnen, dröhnende Lkw auf dem Weg zum nahen Industriegelände. Endlich konnten sie nach links auf die Kopfsteine der Auffahrt abbiegen, in eine Lindenallee, die zum Katharinenschloss führte, einem dreistöckigen Backsteinbau, kastenförmig und plump, der nachträglich mit einem sechseckigen Treppenturm verunziert worden war. Auch die riesigen landwirtschaftlichen Gebäude beiderseits der Allee wollten nicht recht zum Schloss passen. Doch Gefühle für Form und Ästhetik gingen Spindelhirn ab. Gefühle waren ihm fremd, mit Ausnahme von Schadenfreude und Hass, die Geschwister sind.
    Die Sekretärin der Nachtschicht parkte den alten Mercedes vor der Treppe; sie würde im Wagen ausharren, ungeachtet des Frostwetters, bis man ihrer bedurfte. Dr. Spindelhirn hangelte sich aus dem Wagen, seine Spinnenfinger suchten Halt am Holm, er richtete sich auf, nahm die Freitreppe ins Visier und torkelte hinüber, die Mappe unterm Arm. Er hatte zwei ungleiche Beine und einen Klumpfuß und sein tropfenförmiger Körper schwankte auf und ab wie ein Pumpenschwengel. Der Stock war im Wagen geblieben; Spindelhirn gebrauchte ihn so wenig wie möglich, obwohl seine Hüfte schmerzte und die Sekretärin der Nacht ihm Vorhaltungen machte. Irgendwann, in ein paar Jahren, würde sie nicht mehr nur seine Diktate schreiben, sondern ihn auch im Rollstuhl an den Schreibtisch schieben. Spindelhirn verbannte diesen

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