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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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nirgendwo verfangen konnte, ließ ihn durch seine Hände gleiten, so weit wie der Selbstmörder in das Dunkel des Güllekellers vordrang.
    »Allah ist groß«, hörte Heinsohn. »Allah ist groß. Da ist sie. Allah ist groß. Sie haut ab. Allah ist groß. Sie haut immer noch ab. Allah ist groß.«
    »Treib sie nach draußen, in den Schacht. Der Kanal zweigt hinten rechts ab«, rief Bauer Heinsohn.
    »Allah ist groß. Es stinkt hier gewaltig, aber Allah ist groß. Kann man das sehen?«
    »Der Strick ist gleich zu Ende, Mann!«
    »Wie viel noch? Allah ist groß. Hier bin ich!«
    Heinsohn sah ein paar jauchige Fingerspitzen zwischen zwei Betonrippen zappeln. Er prüfte die Schlaufen in seiner Linken. »Noch ungefähr vier Meter«, antwortete er. »Wohin geht sie?«
    »Nach rechts. Allah ist groß«, hörte Heinsohn den Türken. Es hörte sich dumpf an.
    »Dann ist sie gleich draußen im Schacht!«
    »Geh nach draußen!«, rief der Türke. »Ich glaube, sie ist schon da! Vielleicht kannst du sie da festbinden. Allah ist groß und wird mich nicht ersticken lassen!«
    »Aber ich kann doch den Strick hier nicht loslassen!«, antwortete Heinsohn. »Und ich muss erst einen neuen Halfter holen, damit ich die Kuh festbinden kann!«
    »Dann mach schnell, Chef! Ich zieh mich so lange hoch und atme gleich unter den Ritzen! Mach schnell!«
    Bauer Heinsohn warf den Strick hin und sauste ein drittes Mal los. Als er den vermaledeiten Haufen Sägespäne zum wer weiß wievielten Male umrundete, fiel ihm die Geschichte mit dem kleinen Lars ein, an die er nicht denken wollte, und er verfluchte sich, dass er diesen Kümmeltürken nicht einfach fortgezogen hatte, zurück ans Tageslicht. Und dass er nicht längst die brüchigen Betonrippen durch neue ersetzt hatte. Wenigstens durch starke Eichenbohlen.
    Entsetzt hielt Heinsohn inne. Er hörte den Mann nicht mehr. Das Gas! Gärende Gülle erzeugte nicht nur Ammoniakgas, sondern auch Metan. Ein Atemzug reichte, um einen starken Mann besinnungslos zu machen. Er würde sofort in der Gülle versinken und ertrinken.
    Warum hatte er diesen Wahnsinn zugelassen? Was sollte er jetzt machen?
    Es drängte ihn umzukehren, ja, er musste umkehren, aber Heinsohn rannte so schnell wie noch nie in seinem Leben weiter, gegen seinen Willen, über den Hofplatz zum Kälberstall und riss den zweiten Halfter vom Haken. Warum habe ich den nicht gleich mitgenommen?, dachte er noch und keuchte zurück. Warum bin ich drei Mal gelaufen? Warum bin ich eben nicht umgekehrt? Warum bin ich überhaupt losgelaufen? Warum habe ich auch noch angehalten und wertvolle Zeit vergeudet? Das werde ich mich fragen – auch das – bis zum Ende meines Lebens …
    Er stürzte zurück in den Stall. Zwei Kühe hatten sich der Fallgrube genähert und schnupperten neugierig. Es war ruhig. Kein Wort zu hören. Kein Menschengeräusch. Nichts. Heinsohn blieb auf dem Futtergang stehen und konnte sich nicht mehr bewegen. Wie damals, als die Sache mit dem kleinen Lars passiert war.
    »Nein!«, flüsterte Heinsohn. »Nicht noch einmal, Herrgott, nicht noch einmal.« Ihm wurde grau vor Augen und es rauschte ihm in den Ohren.
    »Allah ist groß!«, hörte Heinsohn.
    »Allah ist groß!!«, brüllte Heinsohn. »Allah ist groß!!«, er rannte zum Südtor und nach draußen, von wo die Stimme hergekommen war, riss die Bohlen vom Schacht an der Stallwand und sah den gülligen Kopf des Türken hinter dem gülligen Leib der Kuh im Sonnenlicht glänzen. Das war das Beste, was Heinsohn seit langer Zeit gesehen hatte.
    Der Türke grinste ihn breit an. »Allah ist groß!«, riefen sie beide und Heinsohn stürzte auf die Knie und reichte dem Türken die Hand.
    »Erst der Halfter«, verlangte der.
    Die Kuh war abgekämpft und rührte sich nicht. Gemeinsam zogen sie ihr den Halfter über den Kopf, banden ihn an eine Bohle und verkeilten sie so, dass sie sicher war.
    »Komm jetzt«, bat Heinsohn leise.
    Sie gingen nebeneinander über den breiten Futtergang zum Nordtor und in die Melkkammer. Dort nahm Heinsohn den langen Schlauch vom Wasserhahn und rollte ihn nach draußen ab. »Das wird jetzt kalt«, warnte er.
    »Besser, als so bleiben«, nickte der Türke.
    Heinsohn drehte den Wasserhahn vorsichtig auf. Zuerst spülte er dem Retter der Kühe den Rücken. Schließlich kniete er vor ihm nieder und wusch ihm die Füße, an denen noch die stinkenden Socken hingen.
    »Wie heißt du eigentlich?«, fragte Heinsohn.
    »Heyder. Heyder Cengi.«
    »Sind alle Türken so

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