Paragraf 301
und musterte verdattert seine Handfläche. »Ist irgendwas?«
Sie standen immer noch im Flur und kamen nicht voran.
»Das ist wegen der Religion«, antwortete die Frau.
»Wie?«, entfuhr es Schlüter. »Wieso das denn? Na, kommen Sie erst mal rein.«
Er ging voraus in sein Arbeitszimmer, wies den Besuchern die Stühle vor seinem abgewetzten Schreibtisch, nahm auf seinem Eichenstuhl dahinter vorsichtig Platz; immer das gleiche Ritual. Er atmete tief durch, legte die Fingerspitzen aneinander, die Ellbogen auf den Stuhllehnen, und machte ein fragendes Gesicht.
»Sie müssen schon entschuldigen, Frau …?«
»Kaya. Zekiye Kaya. Ich bin die Tochter von Kemal Kaya, mit dem Sie gesprochen haben, Emin Gül ist mein Cousin. Es ist uns verboten, fremden Männern die Hand zu geben.«
»Und warum?«
Die Frau mochte achtzehn Jahre alt sein, dem Mädchenalter gerade entwachsen. Sie warf einen schnellen Seitenblick auf Gül, der dem Gespräch aufmerksam zu folgen schien, aber offenbar nichts verstand. »Weil es in unserer Schrift so geschrieben steht.«
»Und aus welchem Grund steht es so in Ihrer Schrift geschrieben?«, fragte Schlüter und versuchte ein verbindliches Lächeln. »Gestatten Sie mir die Offenheit: Aber es irritiert mich, wenn jemand sich weigert, mir die Hand zu geben. Bei uns macht man das nur, wenn man jemandem böse ist. Sie sind mir doch nicht böse?«
Sie lachte kopfschüttelnd. »Es ist uns so vorgeschrieben in unserem Glauben.«
»Und das steht – im Koran?«
Sie nickte.
»Sicher?«
Sie nickte nochmals.
»Haben Sie das selbst gelesen?«
»Nein, aber …«
Gül war ungeduldig geworden und sprach seine Begleiterin auf Türkisch an.
»Er will wissen, worüber wir reden«, sagte sie. »Natürlich. Männer wollen immer alles wissen.« Sie lachte ansteckend. »Männer sind neugierig. Viel neugieriger als Frauen.« Dann ließ sie einige türkische Brocken fallen und Gül nickte ernst; seine Lederjacke knarrte lauter als Schlüters alter Stuhl.
»Packen wir das beiseite«, entschied Schlüter schulterzuckend. »Lassen Sie uns zur Sache kommen.«
Gül solle ausgeliefert werden, erklärte die Frau, die Türkei habe ein Auslieferungsersuchen gestellt. Und demnächst, schon in drei Wochen, sei Verhandlung vor dem Oberlandesgericht in Celle. Das Asylverfahren laufe; er habe zunächst eine Duldung bekommen. Sie bräuchten einen neuen Anwalt, denn der, den sie bisher gehabt hätten, sei bei den Gesprächen immer betrunken gewesen, deshalb habe man zu ihm kein Vertrauen mehr. So habe der Onkel Schlüter angesprochen.
Das kann nur Bardenhagen gewesen sein, dachte Schlüter; der war bekannt für seine Saufeskapaden, manchmal konnte er keine ordnungsgemäßen Anträge mehr stellen und dann musste ihn das Gericht nach Hause schicken.
Sie wandten sich dem Sachverhalt zu; Schlüter stellte Fragen, die junge Frau übersetzte.
Gül, so erklärte sie mit ausladenden Handbewegungen, wobei Schlüter feststellte, dass ihre Fingernägel zartrosa lackiert waren, Gül werde vom türkischen Staat verfolgt. Er sei zu zwanzig Jahren Haft verurteilt worden wegen einer Demonstration, an der er teilgenommen habe. Im Urteil stehe, Gül habe versucht, die Verfassung der Türkei mit Gewalt zu verändern oder umzustürzen.
»Die Verfassung ändern? Umsturzversuch?«, fragte Schlüter. »Durch Teilnahme an einer Demonstration?«
»Wir haben solche Gesetze«, antwortete die junge Frau.
Schlüter bat um eine genaue Schilderung der Ereignisse.
»Emin sagt, der Onkel habe Ihnen doch schon alles erzählt«, erwiderte die Frau.
»War der bei der Demonstration dabei?«, fragte Schlüter.
»Natürlich nicht. Aber Emin sagt, mein Vater weiß, wie es war.«
»Erzählen Sie trotzdem«, verlangte Schlüter und sah Gül ins Gesicht.
Gül begann zu reden. Schlüter rutschte in seinem Eichenstuhl hin und her und wartete auf die Übersetzung, während er einen Blick aus dem Fenster warf, vor dem sich die Nacht über den Dächern der Kleinstadt niederließ wie eine müde Taube im Baum.
»Emin war in der Moschee«, begann die Dolmetscherin. »Das war ein Freitag, wissen Sie. Bei uns ist der Freitag das, was hier der Sonntag ist, nur gehen hier die Leute nicht mehr zur Kirche. Bei uns ist das anders, wir haben unseren Glauben noch. An diesem Freitag hat der Imam zu einer Demonstration aufgerufen, gegen die Rotköpfe, die in dem Hotel versammelt waren und Mohammed beleidigt hatten. Der Imam sagte, sagt Emin, sie seien verpflichtet,
Weitere Kostenlose Bücher