Paragraf 301
mutig?«, fragte Heinsohn, aufblickend.
»Ich bin kein Türke«, sagte Cengi und richtete sich auf. »Ich bin ein Zaza.«
11.
Schlüter hockte allein im Büro und wartete auf Gül, während er die Exzerpte noch einmal durchlas, die er in der Bibliothek angefertigt hatte. Angela hatte Feierabend gemacht, eine Stunde früher, weil heute Mittwoch war, und Schlüter lauschte auf das Klingeln an der Tür. Den späten Termin hatte Kaya erbeten, der Mann vom Sivas-Grill, der Herr der Spieße, der Onkel aus der Fußgängerzone.
»Er sagt mir nicht, worum es geht«, hatte Angela beleidigt erklärt, als Kaya wegen des Termins angerufen hatte. Wenn Leute Schlüter verlangten, ohne zu erklären, worum es sich handelte, sah sie Ehre und Kompetenz bezweifelt. Für sie war Kemal Kaya erledigt, bevor er das erste Mal Schlüters Büro betreten hatte. Vielleicht hatte sie recht.
Sein Neffe habe die ganze Woche tagsüber keine Zeit, hatte Kaya behauptet. Keine Zeit vor abends um sieben, und das ohne Arbeitserlaubnis?, überlegte Schlüter.
Aber er schob den Gedanken beiseite. Er knipste die zweite Schreibtischlampe an und erwog, noch den Schriftsatz in der Grabsteinsache Rathjens zu diktieren; die Akte hatte den höchstzulässigen Umfang von fünf Zentimetern überschritten. Das war die Dicke, von der ab man nichts mehr verdiente und überdies die Übersicht verlor. Hans-Herrmann Rathjens war zu voller Form aufgelaufen und produzierte endlose handschriftliche Pamphlete, die, da auf Deutsch verfasst, prozesszulässig und somit zu studieren waren bis hinunter zum lächerlichsten Detail, denn zwischen den Tiraden konnte Prozesserhebliches stecken.
Schlüter erhob sich vorsichtig von seinem alten Eichenstuhl, der aus dem Leim gegangen war und unbedingt repariert werden musste. Aber wann? Der Stuhl diente zehn Stunden täglich Schlüters reichlich fünfzigjährigem Juristenhintern und hatte keine Zeit. Schlüter drehte sich um und hieb ihn mit einem Schlag von beiden Seiten zusammen. Erschrocken fuhren die Dübel in ihre Löcher.
Neben dem Fenster hing das neue bodentiefe Bücherregal, auf dem Schlüter seine soziologische und kriminologische Bibliothek untergebracht hatte, Relikte aus ferner Studienzeit, als man noch an das Gute im Verbrecher glaubte, das der Staat böswillig zu wecken unterließ. Zu Hause wollte Schlüter die Bücher nicht mehr sehen, weil sie ihn zu sehr an seine verlorenen Ideale erinnerten.
Unter dem Fenster lag feierabendruhig die langweilige Stadt, die Leute saßen vor ihren Fernsehern und ließen sich betäuben, damit sie die Ungerechtigkeiten der Welt nicht schmerzten, die Dächer schimmerten friedlich im Zwielicht des frühen Abends, anheimelnde Lichter strahlten empor aus den Gassen.
Es war kurz nach sieben, als es endlich klingelte.
Gül glich seinem Onkel in nichts, abgesehen von der dunkleren Hautfarbe: ein schlanker junger Mann, höchstens zwanzig, mit einem ernsten Blick aus einem schmalen Gesicht, die schwarzen Haare in Vokuhila, vorn kurz und hinten lang, frisiert. Schwarze Lederjacke, hochgeschlossen bis zum Hals, die bei jeder Bewegung knarrte, ein weißes Hemd und Salz-und-Pfeffer-Hosen mit Bügelfalten, dazu scharfspitze schwarze lange Schuhe mit hohen Absätzen, die Christa Weiberschuhe nennen würde und die bei den Türken, wie Schlüter später lernte, ›Gagos‹ hießen. Aber die sah Schlüter erst, als er den Mann wieder verabschiedete und ihn ungeniert von der Seite betrachten konnte.
Gül kam nicht allein, er wurde begleitet von einer jungen Frau, die er hinter sich eintreten ließ. Sie trug einen grauen, mehr als knielangen Mantel, darunter einen noch längeren schwarzen Rock und ein dunkles Kopftuch, das ihre Haare verbarg und das Gesicht schmal und bleich erscheinen ließ. Obwohl sie keine eins sechzig war, schien ihre Gestalt groß, aber zerbrechlich.
Schlüter streckte der Frau die Hand entgegen, die aber hielt ihre Hände auf dem Rücken, deutete ein Kopfschütteln an, schlug die Augen nieder und schwieg. Gül dagegen griff beherzt zu und schüttelte Schlüters Hand mit einem seitlichen Schlenkern.
»Guten Tag«, sagte Gül.
Schlüter registrierte, dass der neue Mandant nicht viel mehr Deutsch konnte als diese Begrüßung.
»Ich bin die Dometscherin, guten Abend, Herr Schlüter«, sagte die junge Frau jetzt. »Emin – Herr Gül – spricht noch kein Deutsch. Er ist erst seit ein paar Monaten hier.«
»Wieso geben Sie mir nicht die Hand?«, fragte Schlüter irritiert
Weitere Kostenlose Bücher