Paragraf 301
sterben lässt und auch so geplant ist, ein existenzieller Nachteil?«
Die Frau überlegte. »Nein«, antwortete sie. Und dann fragte sie sich: »Aber kann das sein?«
»Und nun stellen Sie sich vor«, fragte Schlüter weiter, »Sie werden grundlos von der Polizei verhaftet, in eine dunkle kalte Zelle gesperrt und geschlagen. Würde es für Sie einen Unterschied machen, ob die Polizisten auf eigene Rechnung handeln oder auf Anweisung des Innenministers?«
»Gott, wie schrecklich«, rief die Bibliothekarin, drei Finger vor dem Mund. »Unterschied? Nein, erst mal nicht. Ist das etwa hier in Hemmstedt passiert?!«
»Nochmals besten Dank«, knurrte Schlüter. »Ihre Logik ist besser als die des Bundesverwaltungsgerichts.«
Er zog seine Tasche vom Tisch und ging grußlos am aufknospenden Busen der Bibliothekarin vorbei, die ihm begeistert nachsah.
War ein Nachteil erst dann asylrechtlich von Bedeutung, wenn er existenziell war und das Leben bedrohte? Oder meinten die Oberrichter das existenziell gar nicht so? Ein bisschen nicht zielgerichtete Prügel und Vertreibung schadeten wohl nicht, das musste ein ordentlicher Kurde aushalten können.
Ich bin richtig wütend, stellte Schlüter fest, und das, obwohl es überhaupt noch nicht angefangen hat und ich über Gül, den Türken, gar nichts gefunden habe. Schlüter überquerte den in lebensmüdem Grau gefliesten Marktplatz zwischen Landkreisverwaltung, Arbeitsgericht und Verkehrsbehörde, der wie immer fast menschenleer war. Nur ein paar Landstreicher hockten an seinem Rande, mit ihren Hunden und Bierdosen.
10.
Bauer Heinsohn hinkte nach dem morgendlichen Melken auf seinen Kälberstall zu, um die Tiere dort zu füttern. Verdattert blieb er in der Tür stehen: Ein fremder Kerl in scheckigen Jeans und Gummistiefeln stand im Futtergang und schächtete mit zwei blitzschnellen Bewegungen die Bänder eines Strohballens, packte ein Drittel des Strohs und warf es in die Kälberbox. Staub wirbelte auf und tanzte in der Sonne, die durch die löchrigen Plastikscheiben hereinschien. Der Mann ähnelte irgendwie dem Kümmeltürken von vorgestern, auch wenn er jünger war, kürzer auch und breiter, mit geradem Kreuz und womöglich noch dunkler, er trug keine Mütze, keinen Bart und hatte nicht weiße, sondern kräftige schwarze Haare.
»Was machst denn du hier?«, hörte Bauer Heinsohn sich fragen. Die Überraschung hielt ihn noch nieder.
»Kälber streuen«, antwortete der Mann, ohne sich umzudrehen, und setzte seine Tätigkeit fort, als sei das seine tägliche Arbeit. Schwungvoll warf er die zusammengepressten Strohplacken auf die obere Kante der Trennwände zwischen den Kälberboxen, das Stroh zerteilte sich fast von allein und fiel auf beiden Seiten in die Boxen.
So habe ich das früher auch immer gemacht, dachte Heinsohn. »Wer hat dir gesagt, dass du das machen sollst?!«
»Mein Onkel.«
So, der Onkel also. Dieser Schnurrbart von vorgestern.
»Ich könnte übrigens gleich noch ausmisten«, erklärte der Fremde, ohne Heinsohn anzusehen.
Die Kälber standen hoch auf dem Mist, das hatte der Mann richtig erkannt, sie hatten Mühe, ihre Schnauzen bis an das Schrot in den Trögen zu bringen. Aber …
»Hier bestimmt nur einer, wo ausgemistet wird!«, schnarrte Bauer Heinsohn wütend. Hatte sich dieser Onkel heimlich in seinem Stall umgesehen und Arbeitspläne gemacht?
»Soll ich lieber die Liegeboxen im Laufstall einstreuen?«, fragte der Fremde. Dabei sprang er behänd über das Fressgitter, stand im Nu zwischen den Kälbern und trat das Stroh auseinander.
Die Kälber schreckten nicht zurück wie sonst, wenn Bauer Heinsohn selbst zu ihnen hineinstieg, sondern blieben stehen und betrachteten den Fremden wohlwollend aus ihren großen aubergineglänzenden Augen. Ließen sich sogar berühren.
»Das ist meine Sache, das mit den Liegeboxen«, grummelte Bauer Heinsohn. Er würde das schon allein schaffen. Irgendwie. Auch wenn schon das erste Gras auf dem Haufen mit den Sägespänen vor dem Scheunentor wuchs. Heinsohn wünschte sich, dass er endlich wütend genug werden würde, um diesen Kerl vom Hof zu jagen.
»Natürlich, Chef«, nickte der Fremde und stieg in die nächste Kälberbox zu den Zwillingen von Berta und einem dritten Bullenkalb. Die meisten Kälber dieses Jahr waren Bullenkälber. Was sollte man nur mit denen machen? Sie waren praktisch unverkäuflich, der Markt war zusammengebrochen, man konnte sie noch nicht einmal verschenken. Man musste draufzahlen, als
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