Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
sagte sie dann. »Er hat in einer Autowerkstatt gearbeitet. Er weiß noch, was er gemacht hat. Er hat an einem Auspuff geschweißt.«
    »Und wo?«
    »Ist das so wichtig?«, fragte die Frau.
    »Alles ist wichtig.«
    Sie übersetzte, Gül antwortete, etwas unwillig, wie Schlüter schien.
    »Das war eine Werkstatt am Stadtrand. Am östlichen Stadtrand, an der Ausfallstraße nach Erzincan.«
    »Und wie heißt der Inhaber?«
    Gül sagte einen Namen.
    »Kamil heißt er, glaubt Emin.«
    »Und mit Nachnamen?«
    Gül zuckte mit den Schultern und sagte ein paar Worte.
    »Er weiß es nicht. Er hat nicht sehr lange dort gearbeitet.«
    Schlüter machte sich Notizen. Ob Gül über das Urteil des türkischen Gerichts verfüge, wollte er wissen.
    »Das können Sie doch gar nicht lesen, sagt Emin«, erklärte die Dolmetscherin und warf Gül einige türkische Sätze zu. Güls schmale Lippen kräuselten sich, er schüttelte den Kopf.
    Warum lerne ich eigentlich Norwegisch?, dachte Schlüter, hier sitze ich und müsste Türkisch können und Feinde am Lagerfeuer belauschen wie Kara Ben Nemsi.
    »Emin sagt, das wäre schon übersetzt.«
    Schlüter versprach, das Dokument schnellstmöglich von Bardenhagen anzufordern oder ersatzweise vom Gericht. Für den Fall, dass er noch Fragen hätte, ließ er sich die Telefonnummer von Frau Kaya geben.
    Damit war das Gespräch beendet; Schlüter stand auf und schaltete die Deckenlampe an. Es war jetzt nach acht.
    »Sie dürfen mir also die Hand nicht geben«, sagte er zu der jungen Frau. »Gilt das für alle Frauen?«
    »Für alle Mädchen, die … Jedenfalls nicht für Kinder.«
    »Also alle Frauen. Egal ob verheiratet oder nicht?«
    »Ich bin so gut wie verheiratet.« Sie warf Gül einen dunklen Blick zu. »Da sind nur noch ein paar Einzelheiten zu klären …« Sie verstummte und sah zu Boden.
    »Ach übrigens«, wechselte Schlüter das Thema. »Was ich noch fragen wollte. Kurden sind Sie nicht, oder?«
    »Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte die Frau zurück, diesmal ohne die Frage zu übersetzen, und Schlüter hörte deutlich ihre Entrüstung. »Wir sind Türken«, sagte sie stolz.
    Schlüter gab Gül die Hand.
    Als er an diesem Abend nach Hause ging, nahm er sich vor, mit seinen Lesegewohnheiten zu brechen. Er würde den Björnsson in die Ecke schmeißen, ein paar Suren des Koran lesen, vielleicht auch ein Stück vom Matthäusevangelium, und sich fragen, ob er den Glauben noch hatte. Und welchen.

12.
    Als Paul Clever am Morgen dieses letzten Novembertages des Jahres 1994 aufwachte, wusste er, dass es ein besonderer Tag werden würde. Das Licht schien anders in sein kleines Dachfenster als sonst.
    Er kochte sich einen Kaffee. Gestern hatte der tätowierte Wolfgang angerufen und Clever gefragt, ob er bereit sei für einen neuen Job. Clever hatte sofort zugesagt, denn er brauchte Geld. Wolfgang entwickelte sich zum Jobvermittler, er hatte Clever schon den Job in der Kaserne beschafft.
    Paul Clever wohnte seit seiner Entlassung vor drei Monaten in der Mansarde im fünften Stock eines Mietshauses in der Nähe der Umgehungsstraße. Er hatte seine letzte Strafe bis zum letzten Tag abgesessen, wie jedes Mal, wenn er eingefahren war, damit er sauber draußen umherspazieren konnte und niemandem Rechenschaft schuldig war. Nichts war schlimmer als die staatstragenden Sprüche der Bewährungshelfer. Sie trieften von Weisheit und Richtigkeit. Dabei wusste Clever besser als jeder andere, dass Einbrüche sich nicht lohnten und er sich eine feste Arbeit suchen sollte, aber bis er sich gründlich von den Strapazen der letzten drei Jahre erholt hatte, konnte er sich die Fesseln der Zivilisation nicht anlegen. Er kurierte totale Unfreiheit mit totaler Freiheit. Niemand würde das verstehen, der nicht selbst drei Jahre abgesessen hatte. Paul Clever hätte den Bewährungshelfern viele Ratschläge geben können, die sich nicht mit dem vertrugen, was sie gelernt hatten und tun mussten.
    Clever stammte aus einer alten Großenborsteler Säuferdynastie, sein Vater – oder der, den seine Mutter dafür ausgab – war mit unter vierzig an Leberzirrhose gestorben, sein Großvater war unter Adolf nicht an die Front kommandiert worden, sondern zu Hause gemütlich an einer Alkoholvergiftung zugrunde gegangen, zwei von Clevers Brüdern hatte ebenfalls der Alkohol dahingerafft – der eine war ertrunken, nachdem er in Hollenfleth-Bassel mit überhöhter Geschwindigkeit ins Fleth gefahren war, der andere war als Seemann auf

Weitere Kostenlose Bücher