Paragraf 301
Volkshochschule und dem Ochsenmarkt vorbei, ließen nacheinander Zollamt, Jugendmusikschule und Jugendherberge links liegen. Dann, gegenüber vom Kino, bogen sie wieder links ab in die Schlossstraße. Da fing das Villenviertel an. Clever rieb sich den Schweiß von der Stirn. Er erinnerte sich dunkel an den letzten Zug, den er gemacht hatte, bevor sie ihn das letzte Mal verknackt hatten. Das war hier gewesen, vor drei Jahren und drei Monaten, im September 1991. Clever hatte nach einem Einbruch in eine Gärtnerei ein geklautes Fahrrad geschoben, an dem ein geklauter Käfig mit einem geklauten Papagei drin hing, eine geklaute Leiter lag schräg über Lenker und Sattel, und irgendwie hatte er es fertiggebracht, auch noch zwei Steigen mit geklauten Kakteen auf dem Gepäckträger zu balancieren. Das ganze Geschütz war vier Meter lang gewesen, und das mit gut zwei Promille. Das allein wäre nicht Clevers Verderben gewesen. Aber er hatte sein Lieblingslied gesungen, von der Loreley, weil er damals mit Lore zusammen gewesen war, der er diese ausgefallenen Sachen schenken wollte, um sich ihrer Liebe zu versichern, und der Papagei hatte ihm beim Singen geholfen, mit seiner rostigen Urwaldstimme, die hohl und gewaltig durch die Lianen des Stadtparks schallte. Einer von den Reichen hatte wegen Ruhestörung bei der Polizei angerufen, und das war’s dann. Der Papagei wurde zu seinem Millionär zurückgebracht und Paul Clever in den Knast. Jedem das Seine. Lore hatte er nur noch einmal wiedergesehen, kurz nach seinem Ausbruch.
»Muss das sein, dass du hier ’n Job hast?«, fragte Clever und seine melancholischen Augen sahen Wolfgang zweifelnd an.
»Hast hier ’n Bruch gemacht?«, es war kein Spott in Wolfgangs Stimme.
Freunde gewinnst du in der Schule und dann höchstens noch im Knast, dachte Clever. »Ja – ist aber abgedient. Hauptsache nur, die Leute kennen mich nicht …«
Wolfgang bog in eine von dichtem Gebüsch gesäumte Sackgasse ein und stellte den Wagen vor einer Einfahrt ab. Clever pfiff leise zwischen den Zähnen. Sie standen vor einer regelrechten Villa aus weißen Ziegeln mit glänzendem Pfannendach und Schlafaugengauben und Erkern und Markisen über den Erkern und weißem Kies vor der Tür, auf dem ein flacher Wagen stand, der mehr wert war als alles, was Paul Clever in seinem ganzen Leben geklaut hatte. Das schmiedeeiserne Gitter hatte vergoldete Spitzen und war geschlossen.
»Na, was hab ich gesagt?«, murmelte Wolfgang zwischen den Zähnen. »Aber das Beste kommt noch, halt die Luft an …«
»Dallas«, flüsterte Clever, ohne die Lippen zu bewegen. Er versuchte ein gleichgültiges Gesicht zu machen, als wäre er der Briefträger, der jeden Tag vorbeikommt.
Wolfgang drückte auf den Klingelknopf an dem weißen Steinpfosten und mit einem geheimnisvollen Klicken sprang die Tür auf. Marmor, dachte Paul Clever mit gesenktem Blick, sieht so Marmor aus? Das Auto auf der Auffahrt fesselte seinen Blick. Die Marke kannte er nicht. Dunkelmetallicblau, getönte Scheiben und flach wie eine Hutschachtel. Ob sie noch mehr als das eine hergestellt hatten? Clever dachte an die rostigen Fahrräder, auf denen er gefahren war, und daran, dass er als Kind auf einem Erwachsenenrad fahren gelernt hatte, mit dem rechten Bein schräg unter der Stange durch. Und dass er bis auf den Spirituskocher nichts von bleibendem Wert besaß, obwohl er schon Mitte dreißig war.
»Guten Tag, da sind Sie ja, kommen Sie rein«, sagte eine Frauenstimme.
Clever schreckte aus seinen Gedanken auf. Wolfgang war nicht mehr zu sehen. In der Tür stand Judy Collins. Rote Haare, Jeans, blaue Bluse, tief ausgeschnitten. Breites Lächeln. Sterne in den Augen.
»Na kommen Sie, Herr …?«
Der Ausschnitt war tiefer noch als ihre Stimme.
»Clever mein Name, Paul Clever«, beeilte Clever sich und legte die letzten Meter zurück. Er streckte die gute Hand aus und ergriff ihre ausgestreckte, schloss seine langen Finger um die ihren und schüttelte sie. Ihre Brüste zitterten mit, besonders die rechte, ein Land von Milch und Honig. Ein Kettchen verschwand in dem Tal zwischen den Hügeln und wärmte sich. Endlich schaffte Clever es, der Frau ins Gesicht zu sehen, und ließ ihre Hand los.
»Anna Dieken ist mein Name. Bitte …«
Die Frau drehte sich um und ging voran. Birnenhintern. Es gibt Apfelhintern, Melonenhintern und Birnenhintern, dachte Clever, und das ist ein Birnenhintern.
Drinnen standen sie in einer großen Halle. Irgendwo oben waren
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