Paragraf 301
noch nicht möglich gewesen sei. Nächstes Jahr …
Die Auslieferungssache Emin Gül hatte Schlüter vorübergehend aus seiner Lethargie gerissen, aber die neue Lektüre, zu der sie ihn inspiriert hatte, war nach wenigen Wochen langweilig geworden; den Koran, dieses Buch voller Drohungen, Rache, Vergeltung und Anweisungen für den täglichen Gebrauch, das Lobpreisungen Gottes, Gesetze, Dogmen, Ermahnungen und Polemiken gegen Götzendiener, Juden und Christen in schwülstiger, nur manchmal dichterischer Sprache enthielt, den Tod für die Sache Gottes als sichersten Weg zum Paradies verhieß und verkündete, der Mensch könne kein Jota vom vorherbestimmten Weg abweichen – Schlüter hatte ihn als unverdaulich beiseitegelegt. Die Bibel lag weiter ungelesen auf dem aktuellen Stapel auf dem Sofa, jedes Mal, wenn er sie aufschlug, erschien ihm der Husumer Pastor, der ihn konfirmiert hatte, ein Kreuzfahrer, Kinderschreck und Seelenschänder ohnegleichen. Christa verlor kein Wort mehr über Die satanischen Verse, sie hatte die Lektüre irgendwo im zweiten Drittel eingestellt und gesagt: »Das können wir meinetwegen wegschmeißen.«
Immerhin hatten sie gelernt, dass es sich bei den ›satanischen Versen‹ um einen scheinbar harmlosen Vierzeiler handelte, der ursprünglich im Koran gestanden haben soll, dann aber angeblich vom Propheten gestrichen worden war:
Habt ihr Lat und Uzza gesehen,
und auch Manat, diese andere, die dritte?
Es sind die Erhabenen Vögel,
und ihre Fürsprache ist gewiss erwünscht.
Diese dunklen Zeilen mussten es in sich haben. Lat, Uzza und Manat, so viel war zu begreifen, waren im alten Mekka als Göttinnen verehrt worden, aber nicht nur sie, sondern weitere dreihundertzweiundsechzig Gottheiten, für jeden Tag des Jahres eine. Der Statthalter von Mekka, so schrieb der gehässige Rushdie, habe mit den Verehrungstouristen, von denen die Stadt nur so wimmelte, einen Batzen Geld gemacht, denn er verlangte Eintritt. Mohammed aber wollte nur noch einen Gott: Allah. Wogegen sich der Statthalter heftig wehrte; er wollte sich nicht das Geschäft verderben lassen. Mohammed hatte noch nicht das Sagen über die Stadt, deshalb musste er sich mit dem Statthalter arrangieren und suchte die Höhle nahe Mekka auf, um den Erzengel Gabriel, der ihm dort stets erschien und nach und nach den Koran mitteilte, um Rat zu fragen. Gabriel erteilte Mohammed, so behauptete Rushdie, die Betriebserlaubnis für die drei Damen Lat, Uzza und Manat, obwohl sie Allahs Alleinvertretungsanspruch für das Himmlische infrage stellten. Kaum aber hatte Mohammed den Statthalter in Ketten gelegt und selbst die Macht in Mekka übernommen, eilte er zur Höhle, und siehe da, er kam zurück mit der neuen Anweisung des Erzengels, die Nebengöttinnen seien verboten. Und zwar endgültig.
Die Verse wurden aus dem Koran gestrichen. Was wir auch an Versen aufheben oder in Vergessenheit bringen, wir bringen bessere oder gleiche dafür. Mohammed, so lästerte Rushdie weiter, hatte das Dogma, es gebe nur einen Gott, dem politischen Kompromiss geopfert. Und der Erzengel hatte ihm dazu geraten. Gabriels Rat war also schlicht gotteslästerlich, ja satanisch. Unglaublich, was sich ein Erzengel herausnahm!
Außerdem spottete Rushdie über den Erzengel, weil er Mohammed so viele Frauen erlaubte, wie er haben wollte, dem gemeinen Mann aber bloß vier.
Die fehlenden Unterlagen in der Sache Gül hatte Schlüter vom Kollegen Bardenhagen angefordert, aber noch nicht bekommen.
Das Telefon auf dem Schreibtisch bimmelte. Angela sagte: »Ein Herr Adaman ist da. Neue Sache. Er fragt, ob Sie Zeit haben, jetzt gleich.«
»Wie heißt der Mann?«
»Adaman. Oder so ähnlich.«
»Und worum geht’s?«
»Das wollte er nur Ihnen sagen.«
Der Name hörte sich türkisch an. Schon wieder Türkisch! Wohl wenigstens keine Scheidungssache. Türken ließen sich nicht scheiden. Scheidungsgespräche vertrug Schlüter höchstens zwei in der Woche und er hatte sein Soll schon gestern erfüllt. Frau Rimmel hatte das Bedürfnis, zweimal im Jahr mit ihrem Exmann über Unterhalt zu streiten. Sie war jetzt achtundvierzig, die Scheidung lag zehn Jahre zurück, Frau Rimmel kostete den Unterhaltsanspruch wegen Kindesbetreuung in voller gesetzlicher Länge aus und steuerte auf eine lebenslange Versorgung durch den Exmann zu – der natürlich wieder neu verheiratet war und zwei kleine Kinder hatte. Jetzt behauptete Frau Rimmel Berufsunfähigkeit, Rücken, Sehnenscheiden, Arthrose,
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