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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Türkei gleich ins Gefängnis werfen. Das steht er nicht durch. Bei uns ist Bürgerkrieg. Bei uns sind die Gefängnisse …« Er verstummte, breitete die Arme aus und ließ die Hände auf seine Schenkel fallen.
    Schlüter sah, dass seinem Besucher die Fingernägel am rechten Zeige- und Ringfinger fehlten.
    »Und danach müsste er seinen Militärdienst trotzdem noch leisten«, ergänzte Adaman. »Das kann er nicht.«
    »Und warum?«, fragte Schlüter.
    »Weil sein Gewissen es ihm verbietet. Wir sind Aleviten. Die meisten von uns lehnen Gewalt ab. Besonders wenn man gegen die eigenen Leute kämpfen muss.«
    »Aleviten?!« Schlüter richtete sich auf. »Etwa – Rotköpfe?« Er grinste vorsichtig und zwinkerte mit den Augen.
    Adaman lachte dröhnend und schlug sich auf die Schenkel. »Genau! So nennen sie uns! Das ist ein Schimpfwort, wissen Sie? Sie haben von uns gehört?«
    »Beiläufig«, wich Schlüter aus und sah aus dem Fenster, um dem Blick des Mannes zu entgehen. »Ich wollte Sie nicht beleidigen, entschuldigen Sie. – Und wieso kommen Sie erst jetzt?«, wechselte er das Thema. »Die Sache mit Ihrem Neffen, die ist doch mindestens vor einem Monat passiert?«
    »Das ist länger her. Am 10. November war das. Ich habe ihn versteckt, so gut es geht. Aber ich weiß nicht, wie lange ich mich um ihn kümmern kann. Es gibt nur sehr wenige hier in der Gegend, zu denen ich Vertrauen habe. Ich wusste nicht eher von Ihnen.«
    Schlüter versuchte, klare Gedanken zu fassen, aber er konnte nicht, weil er in sich Kemal Kayas Stimme hörte: Rotköpfe, ehrlose Leute, töte sieben Aleviten, so kommst du in den Himmel!
    »Und Sie«, fragte er. »Haben Sie Aufenthaltsrecht?«
    Adaman schüttelte den Kopf.
    »Haben Sie keine Bedenken, dass Sie aufgegriffen werden, besonders jetzt, nachdem die Sache mit Ihrem – Neffen passiert ist?«
    Der Besucher lächelte und sagte: »Natürlich. Deswegen bin ich ja hier. Falls mir etwas zustößt.«
    Falls mir etwas zustößt. Ein Fremdländer, von Weitem als solcher zu erkennen, ein stattlicher Mann mit weißem Schnurrbart, dessen Haut von der südlichen Sonne seiner felsigen Heimat dunkel gegerbt war, den man mit einem Bündel Schafwolle auf dem Rücken steinige Pfade in den steilen Schluchten anatolischer Gebirge gehen sah oder an einem Tisch sitzen in einem orientalischen Teehaus, wo er sich am Rande eines Marktplatzes eine Pause vom Handel mit dem Vieh gönnte. Jeder misstrauische Bürger, jeder Polizist musste sich fragen, ob der Mann eine Aufenthaltsgenehmigung hatte. Wie alt mochte er sein?
    »Es besteht eine Abschiebeverfügung gegen mich«, erklärte Adaman. »Bei mir ist nichts zu machen. Ich komme sofort in Auslieferungshaft, wenn ich geschnappt werde.«
    Er erzählte, er sei vor acht Jahren nach Deutschland gekommen und habe Asylantrag gestellt. Der sei aber zurückgewiesen worden und danach sei er untergetaucht. Anfang letzten Jahres, 1993, habe man ihn erwischt und abgeschoben, aber im Herbst schon sei er wieder zurückgekommen.
    »Und wie?«, fragte Schlüter.
    »Es gibt Wege«, erklärte Adaman vage. Von Teheran war er eingeflogen, nach Amsterdam, mit einem Pass aus der besten Fälscherwerkstatt in den Souks von Istanbul; fast zehntausend Mark hatte ihn die Reise gekostet.
    »Haben Sie Familie?«
    Der Mann nickte mehrmals. »Ja«, sagte er zärtlich. »Ich habe eine Frau und vier Kinder, zwei Töchter und zwei Söhne. Sie sind natürlich nicht in Deutschland.«
    Schlüter rechnete. Von 1986 bis 1993, sieben Jahre lang, hatte der Mann seine Familie nicht gesehen. Und jetzt seit ungefähr sechzehn Monaten nicht. Schlüter stützte den Kopf in die linke Hand, den Ellbogen auf seinem abgewetzten Schreibtisch. Und er würde heute Abend nach Hause gehen und Christa umarmen, den Duft ihrer Leibes einsaugen und den vielen Nächten, die er bei ihr gelegen hatte, eine weitere hinzufügen, eine Hand auf ihrer atmenden Brust.
    Was ist Einsamkeit?
    »Ach je«, seufzte Schlüter. »Herrjemine.«
    »Es ist besser so«, tröstete ihn der Fremde. »Wir telefonieren einmal in der Woche. Meine Söhne sind in Istanbul, meine Tochter Ezo ist noch zu Hause, die andere ist verheiratet, sie lebt in Izmir.« Er lächelte wieder. War es ein wehmütiges Lächeln?
    Er sah Schlüter erwartungsvoll an. Jedes Wort, das dieser Mann sprach, war genau überlegt; ein intelligenter Mann, den ein Schicksal, das Schlüter nicht kannte, zu einem Gesetzlosen in einem fremden Land gemacht hatte. Aber keines seiner

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