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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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nicht mehr als fünf Kilo tragen, nur Tätigkeit im Wechsel von Gehen, Stehen, Sitzen, ohne Zugluft und Hitze maximal zwei Stunden am Tag. Das war Emanzipation. Die Frauen verlangten Gleichberechtigung und, nachdem sie sich deswegen mit ihren Männern verzankt hatten, lebenslange Versorgung.

    Nach Frau Rimmel war dann noch ein Greis erschienen, der sich nach fünfzig Jahren Ehe scheiden lassen wollte, offenbar nur wegen der Einzelgrabstelle. Das Weib, das ihm Jahrzehnte des Lebens versauert hatte, sollte im Tode nicht neben ihm liegen. Schlüter hatte es dem Mann nicht ausreden können. »Wenn Sie das Scheusal kennen würden, von der würden Sie sich auch scheiden lassen«, behauptete der Alte.
    Überhaupt hatten Greisenscheidungen zugenommen.
    »Soll ich ihn reinschicken?«, fragte Angela. Sie stand inzwischen in der Tür.
    Schlüter nickte ergeben und räumte die unerledigten Akten von seinem Schreibtisch. Jedenfalls konnte er die Grabsteinsache Rathjens so besser verdrängen.
    Schlüter hatte einen kleinen Mann mit schwarzen Haaren erwartet, aber Adaman war groß, bestimmt einen Meter achtzig. Er hatte weiße Haare und einen weißen Schnurrbart und seine bronzene Haut war dunkler als die von Kaya und seiner Sippe.
    Adaman lächelte freundlich und wünschte mit rauer Stimme einen guten Tag. Über einem blauen Hemd und einer Weste trug er ein ausgebeultes dunkelbraunes Jackett, das ihm zu groß war, denn es schlenkerte um seine knochigen Schultern.
    Schlüter war hinter seinem Schreibtisch aufgestanden, erwiderte den Gruß, indem er eine Hand ergriff, die sich trocken und knotig anfühlte, und wies den Mann auf den Besucherstuhl. Der Mann hatte eine Menge Lachfalten um die Augen und tiefe Kerben auf Stirn und Wangen.
    »Was führt Sie zu mir?«, fragte Schlüter wie üblich.
    »Mein Neffe«, antwortete der Mann. »Haben Sie Zeitung gelesen?«
    Schlüter schüttelte den Kopf und klappte die Hände auseinander. »Ich hab sie abbestellt«, erklärte er. »Es steht zu viel Mist drin.«
    Der Mann lachte und nickte. »Stimmt. Aber vielleicht haben Sie trotzdem davon gehört. Im November ist in Hemmstedt ein Mitarbeiter des Arbeitsamts bei der Kontrolle auf einer Baustelle ums Leben gekommen. Er ist vom Gerüst gestürzt …«
    »Davon habe ich allerdings gehört«, sagte Schlüter. »Man hat mir davon erzählt.« Er atmete tief und entschlossen durch.
    »Mein Neffe soll ihn getötet haben«, erklärte der Mann. »Absichtlich.«
    »Sagen Sie mir nicht, wo Ihr Neffe steckt«, ordnete Schlüter hastig an. »Wenn er verfolgt wird und Sie mir sagen, wo er ist, müsste ich das womöglich der Polizei mitteilen. Meine Verschwiegenheitspflicht gilt nur, wenn ich ein Mandat habe. Und ich werde Ihren Neffen nicht vertreten. Ich kann ohnehin nichts für ihn tun. Von Ausländerrecht habe ich so gut wie keine Ahnung und Strafsachen lehne ich grundsätzlich ab.«

    Vor allem hatte Schlüter von türkischen Neffen vorerst genug, die eine Sache mit Gül reichte ihm, aber das behielt er für sich. Er hoffte, der Mann würde jetzt aufgeben, aber Adaman schüttelte den Kopf.
    »Dies ist eine besondere Sache, Herr Rechtsanwalt«, sagte er. »Und Sie sind mir empfohlen worden.«
    »Von wem? Und weiß dieser Mensch, welches Problem Sie mir antragen?«
    »Das habe ich erzählt, ja. Sie hat gesagt, Sie können noch an Unschuld glauben. Sie werden alles richtig machen.«
    »Wer ist diese – sie?«, fragte Schlüter und wunderte sich, dass eine Frau zu solchem Vertrauen fähig war.
    Der Fremde antwortete nicht. Er saß vorgebeugt und knetete angespannt die Fäuste zwischen den Knien. Ein silbernes Kettchen baumelte ihm vom Hals, daran ein Schwert wie eine winzige Kräuterwiege. Schließlich sagte er: »Mein Neffe hat diesen Mann nicht absichtlich getötet. Er wollte nur weglaufen. Der Mann hat ihn verfolgt und sie haben auf dem Baugerüst im vierten Stock gekämpft. Es hat sich eine Gerüststange gelöst, der Mann hat den Halt verloren und ist abgestürzt.« Er stieß die Hände ineinander.
    »Zeugen?«
    Adaman schüttelte den Kopf.
    »Wenn Ihr Neffe sagt, er hat es nicht getan – warum stellt er sich nicht?«
    »Er muss Geld verdienen«, erklärte Adaman. »Er ernährt seine Eltern und seine Schwester. In ihrer Heimat. Die Familie ist auf sein Geld angewiesen. Sie hat sonst nichts. Und auch wenn er freigesprochen wird, wird er auf jeden Fall abgeschoben. Denn er ist fahnenflüchtig. Er ist vom Militärdienst geflüchtet. Man würde ihn in der

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