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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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knappen Worte ließ Unterwürfigkeit erkennen.
    Schlüter spürte, wie sein Herz unter dem erwartungsvollen und selbstgewissen Blick des Mannes langsam weich wurde wie der harte Brotknust heute Morgen, den er in seinen Frühstückstee getunkt hatte, denn er gehörte noch zu den Leuten, denen man beigebracht hatte, nichts umkommen zu lassen.

    Er hatte zu viele Fragen gestellt, um noch Nein sagen zu können. »Nun gut«, hörte er sich reden. »Ich werde Ihren Neffen vertreten.«
    Die Augen des Mannes leuchteten auf. »Ich habe es gewusst«, lachte er und die Lachfalten dehnten sich als feines Gespinst bis unter die weißen Haare. »Sie hat gesagt, Sie würden zusagen, und sie hat gesagt, ich soll das erst sagen, wenn Sie zugesagt haben. Ich soll bestellen herzliche Grüße von Frau Kalde.«
    Schlüter ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken. Die Moorhexe aus dem Engelsmoor! Was hatte diese wunderliche Dame, die die Zukunft aus einer Kristallkugel las und mit einer bunten Gesellschaft alter Käuze und einer Unmenge von Katzen in einer krummen Kate tief im Moor südlich von Hollenfleth lebte, mit diesem Mann zusammengebracht?

    »Wo kommen Sie eigentlich genau her?«, erkundigte sich Schlüter.
    »Aus dem Dersim«, antwortete Adaman. »Man sagt, dort sei das biblische Paradies gewesen. Wenn Sie zu Hause eine Karte haben, dann suchen Sie nach Elazıg und Erzincan. Das Gebirge dazwischen, das ist das Munzurgebirge, da stamme ich her.«

    Eine Autowerkstatt an der Ausfallstraße nach Erzincan.
    »Ist das weit von Sivas entfernt?«, fragte Schlüter.
    »Sie kennen Sivas? Da war ich letztes Jahr. Man hätte mich dort fast umgebracht.«
    »Umgebracht!?«, rief Schlüter aus. »Das ist ja fürchterlich, ich meine, das ist ja … wie …« Er verstummte.
    Adaman machte eine wegwerfende Bewegung und lachte. »Ich lebe«, sagte er. »Ein Freund hat mich gerettet. Aber genug, ich rede zu viel, das spielt keine Rolle. Es geht um meinen Neffen. – Hier ist eine Telefonnummer, falls Sie mich dringend erreichen müssen. Es ist nicht mein Telefon. Ein Herr Clever wird sich melden.«
    Sie verabredeten, dass Adaman seinen Neffen eine Vollmacht für Schlüter unterschreiben ließ, sie aber sonst vorerst nichts unternehmen würden. Erst wenn der Neffe verhaftet werden sollte, würde Schlüter tätig werden und von ihm selbst alles Notwendige erfahren. Deutschland, erklärte Adaman, sei ein gutes Land, es gäbe keine Willkür und jeder, der verhaftet werde, habe das Recht, einen Anwalt anzurufen, und das werde sein Neffe tun, falls es so weit käme.
    Adaman beendete das Gespräch, als habe er keine Zeit mehr. Er stand auf, verabschiedete sich und ging, groß, weißhaarig, leicht gebeugt, entschlossen.
    Schlüter blieb bewegungslos hinter seinem Schreibtisch sitzen. Sivas, schon wieder Sivas, dachte er. Er hätte Adaman gerne gefragt, ob er das Hotel Madımak kenne, ob er gar etwas mit dem Brand zu tun gehabt habe. Aber andererseits – vielleicht war es besser, nicht noch mehr darüber zu wissen. Schlüter schob den Gedanken beiseite. Er fühlte dem festen Druck der verstümmelten Hand nach, sah die blinden Kuppen der Finger, denen der Spiegel des Nagels fehlte, die aber nicht kürzer waren, als Finger sein sollten. Hatte der Mann einen Unfall gehabt? Schlüter spürte ein Ziehen in seiner Hand. Sie haben ihm die Fingernägel herausgerissen, sagte es in ihm, sie haben ihn gefoltert.

    Schlüter las die Telefonnummer auf dem Zettel: Clever. Etwa der Clever?
    Es geschahen Dinge, auf die man keinen Einfluss hatte, und ein dumpfes Gefühl von Gefahr breitete sich in seinem Magen aus. Heute Abend würde er den Atlas aufschlagen, um das Dersim zu suchen. 

14.
    Auf dem Beifahrersitz saß der Kanake. Schukowski hatte ihn in Hollenfleth aufgegabelt. Meschkat, der Mann fürs Grobe bei Madaus & Sohn, hatte Schukowski angewiesen, bei der ARAL-Tankstelle nach einem Südländer Ausschau zu halten. Als der Mann in den Lkw stieg, dachte Schukowski: Auch das noch, ein Hungerhaken, spiddelig und viel zu alt und schlapp zum Möbelschleppen. Er begrüßte den Fremden nicht, wartete nur, bis der die Tür zugeschlagen hatte, und fuhr wieder an.

    Einen Nachthimmel gab es über dem Industriegebiet nicht, keine Sterne, sondern nur die Flutlichter über den chemischen Produktionsanlagen. Schukowski wohnte in der Nähe der Industrie am Borsteler Fleth, nur ein breiter Streifen Apfelhöfe dazwischen, deshalb sah er den Sternenhimmel fast nur noch einmal im Jahr,

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