Paragraf 301
Gebirge geschafft. Viele der Verzweifelten ertranken in den Flüssen, weil sie Wasser zu sich nehmen wollten und keine Kraft mehr hatten, der Strömung zu widerstehen, oder sie wurden erschossen, weil sie bei ihren Kindern blieben, die nicht Schritt halten konnten. Die Frauen sprangen von den Klippen in den Fluss Munzur, um nicht vergewaltigt zu werden.
»Geyiksuyu …«, flüsterte Adaman. »Der Fels der Zwanzigtausend. Lac derisı … Eine Schlucht, die bis nach Pılemorye reicht, vierzehntausend hatten sich dort versteckt vor dem Militär, Frauen, Kinder, Alte, in den Höhlen. Sie hatten ihre Schafe mitgenommen, sie lebten von dem, was die Natur ihnen gab, von Nüssen und Beeren. Man hat sie bombardiert, aus der Luft … Alle sind gestorben. Ich bin über den Fluss geschwommen im vorletzten Jahr, ich wollte es selbst wissen. Ich habe ihre Knochen gesehen. Ich habe einen Stein mitgenommen …«
Adaman zog einen Stein aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. »Ich trage ihn immer bei mir, im Gedenken an alle, die sterben mussten. Er erinnert mich daran, dass ich zurückkehren werde, sobald ich kann.«
Schlüter starrte den Stein an, einen kleinen unscheinbaren kantigen grauen Stein, der in eine Faust passte.
Ach, Brüder, diese Grausamen ermordeten uns. / Von uns allen ließen sie liegen die Leichen in Sonne und Wind …
Das Dersim wurde alevitenrein gemacht, im Schatten des kommenden Großen Krieges. Wie viele Menschen starben? Siebzigtausend oder doppelt so viele? Müßige Frage. Hunderttausend wurden deportiert oder flüchteten von selbst in den Westen der Türkei, wo sie entwurzelt, voller Hass und ohne Hoffnung ein neues Leben nicht beginnen konnten. Inländische Fluchtalternative.
»Meine Mutter – sie hat überlebt, weil sie in der Mitte gestanden hat. Man hatte die Leute aus den Häusern geholt, zusammengetrieben auf dem Dorfplatz wie Vieh. Sie wurden eingekreist und dann wurde geschossen. Keiner konnte fort. Meine Mutter hat sich tot gestellt und ist am nächsten Tag unter den Leichen ihrer Nachbarn und Verwandten hervorgekrochen, mit einem zerschossenen Arm und mit mir in ihrem Bauch. Vielleicht habe ich sie davor gerettet, verrückt u werden. Mein Vater war ja vorher schon erhängt worden.«
Adaman schwieg. Schlüter rührte still in seinem Tee. Er hätte eine Menge Fragen stellen können.
»Das ist jetzt siebenundfünfzig Jahre her«, fuhr Adaman fort. »Es gibt nur wenige Dersimi, die die Massaker überlebt haben. Und noch weniger, die darüber sprechen. Wer spricht, riskiert Freiheit, Gesundheit und Leben. Beleidigung des Türkentums heißt der Straftatbestand. Paragraf 301. Viele sind verurteilt worden, weil sie über den Mord an den Armeniern gesprochen haben. Der aber ist wenigstens dokumentiert, historisch bewiesen. Der Mord an unserem Volk – es gibt fast nichts Dokumentiertes, nichts Schriftliches, und wenn, dann stammt es von den Tätern. Die Überlebenden sterben aus. Viele der Vertriebenen haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden, ihre Kinder haben Glauben und Sprache nicht mehr von ihren Eltern gelernt. Der Völkermord im Dersim ist der unbekannteste aller Völkermorde. Und ich habe das alles zum ersten Mal auf Deutsch erzählt.«
Adaman zündete sich eine neue Zigarette an. Schlüter hatte seinen Ärger über Frau Rimmel, den Kollegen Hümmelsee und die Zunft der Juristen vergessen. Alles Kleinigkeiten.
»Fast niemand außerhalb des Dersim weiß vom Völkermord«, fuhr Adaman fort. Er redete jetzt schnell, hastig, als habe er kaum noch Zeit, er rauchte und immer wieder sah er an Schlüter vorbei zur Eingangstür. »Schon in Elazıg werden Sie keinen finden, der davon gehört hat, noch nicht einmal unter den dortigen Zaza. Auch Cihan hier wusste nichts davon.«
Adaman hielt inne und rieb sich die Augen; er hatte ein müdes Gesicht. »Zuletzt war ich in Sivas …«, sagte er. »Ich dachte, da kann ich arbeiten. Sivas liegt über zweihundert Kilometer von der Stadt Dersim entfernt. Ich habe in einer Druckerei gearbeitet, aber dann hätte man mich fast umgebracht …«
Adaman schüttelte heftig den Kopf und zog ein paarmal tief an seiner Zigarette. »Es wäre so einfach«, wechselte er das Thema. »Wir glauben nicht an einen Gott, der uns mit der Hölle bestraft und mit dem Paradies belohnt. Wir glauben an die menschliche Weisheit, wir glauben, dass Gott in uns Menschen lebt und uns Weisheit gibt, wenn wir sie wollen. Das ist das Gegenteil von dem, was die Sunniten
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