Paragraf 301
Stimme.
»Natürlich. Was denken Sie denn? Das ist hier nur ein kleiner Teil. Augenblick …« Er blätterte. Wo war nun zum Teufel das Ausländergesetz? Verstohlen blickte Schlüter in das Inhaltsverzeichnis, das man auch Idiotenwiese nannte.
»Ich hab doch nichts Schlechtes gemacht«, fing Witt wieder von vorn an. »Muss man doch sagen – ich hab dem Mann Arbeit gegeben, ich hab ihm das Geld gegeben, mit dem er seine Familie in der Türkei ernähren kann. Das ist doch nichts Schlechtes. Was sagen Sie, Herr Rechtsanwalt?«
»Was ich sage?«, murmelte Schlüter, während er die Seiten überflog. »Hier: Paragraf 92a Ausländergesetz. Wer Beihilfe leistet dazu, dass sich jemand ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aufhält …« Ihm fiel immer noch der Name ›Deutschland‹ schwer, es war ein Wort, das automatisch andere nach sich ziehen wollte, zum Beispiel über alles. Bundesrepublik Deutschland war auch falsch, das hatte man vor der Wende gesagt, als es noch eine DDR gegeben hatte. Und BRD konnte man schon gar nicht sagen, diese drei Kommunistenbuchstaben. Im Gesetz stand Bundesgebiet – zu akademisch, um dieses Wort vorzulesen.
»Und – was gibt’s dafür?«, fragte das Mardergesicht.
»Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe«, las Schlüter weiter, mit Automatenstimme.
»Dann kann ich einpacken«, jammerte Witt.
»Und außerdem war das natürlich Schwarzarbeit«, ergänzte Schlüter und erhob sich. »Moment mal.« Das Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit gab es weder im Schönfelder noch in einer anderen Gesetzessammlung für Juristen. Es war folglich ein unwichtiges Gesetz, das selten zur Anwendung kam, im Gegensatz zum öffentlichen Getöse. Es stand in keiner Gesetzessammlung für den täglichen Gebrauch, sondern allein im Bundesgesetzblatt, Schlüter musste ins Archiv. Seit der Wende gab es jährlich statt zwei drei Bände neuer Gesetze. Die Regale bogen sich unter der Last neuer Bestimmungen. Heribert Witt hatte recht: Die Bürokraten hatten Hochkonjunktur. Der Gesetzgeber war fleißig.
Schlüter kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück, schlug den schweren schwarzen Band auf, blätterte. »Paragraf 3 des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit. Geldbuße bis zu hunderttausend Mark.«
»Mit anderen Worten: Die können mich ruinieren?« Witts Stimme zitterte, ob vor Angst oder Wut, das war die Frage.
»Das Finanzamt kommt natürlich auch noch«, fuhr Schlüter erbarmungslos fort. »Sie haben Steuern hinterzogen. Das Finanzamt will sein Geld.«
»Das ist doch irre!«, rief Witt mit erhobenen Händen. »Da macht man und schuftet man, meine Frau, die sieht mich kaum noch, meine Kinder kennen mich bald nicht mehr, und dann das zur Belohnung. Das sind die deutschen Gesetze!«
»Sie haben es mit dem Arbeitsamt, dem Finanzamt und dem Staatsanwalt zu tun. Die sind alle hinter Ihnen her«, stocherte Schlüter weiter.
»Wahnsinn«, stöhnte Witt.
»Außerdem wird die Krankenkasse kommen und von Ihnen die Sozialversicherungsbeiträge verlangen.« Schlüter war der Chirurg, der das Skalpell in der Wunde drehte, weil er der Kranken überdrüssig war.
Heribert Witt rieb sich heftig die Augen. »Ich werde verrückt«, sagte er. »Wo leben wir?«
»In Deutschland«, stellte Schlüter fest und klopfte leicht mit dem Zeigefinger auf die Gesetzessammlung. »Im Geltungsbereich dieser Gesetze.« Er fixierte Witt, der endlich mal still war, und fuhr fort: »Ich bin nicht der Gesetzgeber und es steht fest, dass ich die Gesetze nicht ändern kann. Der Gesetzgeber ist auch nur ein Mensch. Oder vielmehr: mehrere. Sie können ja nächstes Mal einen anderen Abgeordneten wählen.«
»Wählen? Tu ich schon lange nicht mehr! Die sind sowieso alle gleich. Stopfen sich selbst die Taschen voll. Das fängt unten schon an. Wenn ich an diesen Oberkreisdirektor denke …« Witt machte eine bedeutsame Pause.
Schlüter tat ihm den Gefallen und fragte: »Was denken Sie dann?«
»Dass der Dreck am Stecken hat, das sage ich Ihnen. Kennen Sie die Geschichte mit dem Schloss in Lieth?«
»Nee, warum?«
»Das hat doch der Landkreis übernommen, stand doch in der Zeitung …«
»Ich lese keine Zeitung.«
»Das soll ein Kulturzentrum werden.«
»So.« Kultur gab es für Schlüter nur zwischen zwei Buchdeckeln. Auch wenn er letztes Jahr im Konzert gewesen war.
»Jedenfalls kann das kein anderer gewesen sein, das mit dem Wasserschaden im Schloss …«
»Wasserschaden?«, fragte Schlüter
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