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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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waren. Des Präsidenten Glatzentarnhaare flatterten im Wind wie ein zerfetzter Schleier, als er sich aus dem Wagen stemmte. Sofort versuchte er, die Scham seiner Stirn zu bedecken.
    Sie nickten sich zu, ohne sich die Hand zu geben. Schlüter ging zunächst neben dem Präsidenten, dann hinter ihm, und, nachdem sie die beiden Glastüren des Eingangs durchschritten hatten, schließlich vor ihm, bis ihm einfiel, dass es egal war, ob er hinter, neben oder vor dem Präsidenten ging. Sie durchquerten die mit dunkelblauem Teppich gerüstete düstre Halle, deren Decke so niedrig schien, dass man unwillkürlich den Kopf einzog, vorbei an der Cafeteria, wo es Kaffee, Silvia-Romane und Fernsehzeitschriften zur Beförderung der Gesundheit gab. Hier konnten die Kranken allein oder mit ihren Angehörigen der Illusion von Freiheit und Normalität aufsitzen oder letzte Wege machen, bevor die Anästhesisten sie betäubten und die Ärzte sie aufschnitten. Hier konnten die Überlebenden sich im Sitzen, Gehen oder Rollstuhlfahren üben; bei manchen hingen hohle Hosenbeine herab. Die weißen Götter aber trugen Röntgenbilder von einer Station zur anderen und es roch nach Desinfektionsmittel, Kaffee und Tod.
    »Wir nehmen die Treppe«, erklärte Schlüter und steuerte an den Fahrstühlen vorbei ins Treppenhaus, durch dessen gläserne Außenwand der Blick auf die weitläufigen Grünanlagen fiel. Seit hier sein Sohn Markus vor mehr als zehn Jahren nach dem Motorradunfall wieder lebendig geworden war, kannte Schlüter sich aus.
    Sie gingen bis in den K2, den zweiten Keller. Schlüter hatte seinen Freund Havelack angerufen und nach dem Treffpunkt gefragt. Nachdem Schlüter eine graue Eisentür aufgestoßen und den Präsidenten hinter sich hatte durchschlüpfen lassen, standen sie unter gleißendem Neonlicht auf grau gestrichenem Betonboden in einem Flur, offenbar dem Reservelager für Rollstühle, Krankenbetten und Operationstische. Hier roch es nur nach Staub.
    »Und jetzt?«, fragte der Präsident.
    »Jetzt warten wir«, erklärte Schlüter, als hätte er Hausrecht. »Bis Havelack kommt. Da drüben ist die Zelle. Sie können ja schon mal reingucken.« Er zeigte mit gestrecktem Finger auf die übernächste Eisentür rechts. Havelack hatte ihm das alles erklärt.
    Der Präsident ging hin, bückte sich geringfügig, stemmte schließlich die Fäuste auf die Oberschenkel und starrte mit seinen dumpfen Augen durch den Spion.
    »Schläft«, diagnostizierte er.
    Es krachte hinter ihnen und Havelack stand vor Schlüter.
    »Moin, mein Lieber«, flüsterte der Chef der Psychiatrie und grinste verschwörerisch. »Ist das dein Präsident?«
    Schlüter nickte.
    »Tag, Herr Präsident«, rief Havelack fröhlich, während er sich energisch dem Präsidenten näherte.
    Schlüter wurde rot. Havelack kannte keine Gnade. Aber immerhin war er gut drauf.
    Der Präsident trat vom Spion zurück, drückte sich langsam in die Senkrechte und war kein Voyeur mehr.
    »Amtsgerichtsdirektor, bitte, wenn ich bitten darf. Nur Amtsgerichtsdirektor.«
    »Tag, Herr Direktor«, nickte Havelack. »Entschuldigen Sie die inkorrekte Anrede. Man kennt sich mit den Dienstgraden ja nicht so aus. Havelack mein Name. Bin der Chef der Psychiatrie. Sie können mich Direktor nennen.«
    Der Präsident galt als humorfrei und bestätigte dies mit einem förmlichen Händedruck.
    Sie beschlossen, dass Havelack der Veranstaltung nicht beiwohnen müsse, sondern wieder seinen Pflichten als Chef der psychiatrischen Abteilung nachkommen könne, während ein Pfleger, der jetzt durch die Eisentür trat, mit einem Schlüssel ausgestattet wurde.
    »Sie gehen zuerst, Herr Schlüter. Ich bitte Sie. Sprechen Sie mit ihm.«
    Schlüter nickte. Der Pfleger, ein müder Mann in weißem Anzug mit grauem Gesicht und hängendem Schnurrbart, schloss die Tür auf. Schlüter trat ein. Knirschend drehte sich der Schlüssel hinter ihm wieder im Schloss. Vorschrift ist Vorschrift.
    Jetzt sind wir allein, wir zwei, dachte Schlüter und blieb mitten im Raum stehen: der Selbstmörder und der Advokat.
    Der Raum mochte drei mal drei Meter groß sein. Der Boden war mit grauem Linoleum ausgelegt. Die Wände weiß und aus Beton. Von der niedrigen Decke spie eine vergitterte Neonröhre ihr giftiges Licht. Kein Fenster. Rechts in der Ecke das einzige Möbel: eine einfache Pritsche, auf der eine lange Gestalt halb unter einer zu Boden hängenden Decke lag. Wie der Gekreuzigte nach der Demontage, dachte Schlüter, wären nicht die

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