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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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wir unseren nächsten Cem haben, sind Sie herzlich willkommen. Dann sehen Sie, wie wir den Semah tanzen zur Musik der Saz. Mögen Sie einen Tee?«
    Cengi stand plötzlich neben den beiden und hielt zwei kleine Gläser in der Hand. »Hab schon welchen mitgebracht«, sagte er und setzte sich links neben Heinsohn auf den leeren Platz. Und dann kam auch noch Herr Örnek und ließ sich neben Cengi nieder, und deshalb hatte Heinsohn keine Zeit mehr zu fragen, was es mit dem Tanz auf sich hatte.

27.
    Schweigend fuhren sie zurück. Heinsohn zum Ort seiner Väter und Vorväter und Cengi zu seinem Versteck im Moor, das ihm, wie viele andere zuvor, vertraut geworden war, seit er das Land seiner Väter und Vorväter verlassen hatte. Es war spät geworden, mindestens drei Stunden hatten sie in dem Haus ohne Vordereingang gesessen, Tee getrunken und geredet. Als sie bei der Schafzucht in der Türkei und schließlich beim Thema Kühe und Milch landeten, war Heinsohn aufgeschreckt, weil es höchste Zeit zum Melken war. Heinsohns Fuß funktionierte nach dem langen Sitzen nicht mehr, und obwohl er die Zähne zusammenbiss, hinkte er, als er die Treppe hinabging. Seine Wangen fühlten sich steif an, denn er hatte so viel geredet wie lange nicht.

    Die Sonne stand schräg am Himmel und veranlasste ihn, ausnahmsweise gerade zu sitzen. Cengi hingegen hatte sich noch kleiner auf dem Vordersitz zusammensinken lassen als auf der Hinfahrt, er hatte den Sitz nach hinten geschoben und die Rücklehne heruntergedreht; er lag zusammengerollt, als schliefe er.
    Feierabendverkehr, in endlosen Kolonnen rollten die Wagen auf der vierspurigen Vorstadtstraße von Ampel zu Ampel.

    Heinsohn hing seinen Gedanken nach. Er würde so spät melken wie lange nicht. Er sah sich zwischen den Hintern seiner Kühe stehen, in dem vertieften Graben des Doppelvierer-Fischgrätenmelkstandes. Seit Jahrzehnten verrichtete er diese Arbeit zweimal täglich, er musste den Kopf schütteln. Wie konnte man das so lange freiwillig machen, jeden Tag, das ganze Jahr, all die Jahre? Ob der Hof überhaupt noch stehen würde, nachdem er den ganzen Tag fort gewesen war?
    Hinter Hamburg wurde die Straße wieder einspurig, auf den Ausläufern der Geest, am Rande des Elbstromtales fuhren sie sanft hügelauf und hügelab und manchmal konnte man weit hinunterblicken in die Marschen, über Wald und Felder. In Hollenfleth gab es keinen Wald, abgesehen von einem kleinen ein paar Kilometer Richtung Großenborstel zwischen Moorstraße und Torfabbaugebiet, den sie Krönckes Tannen nannten, obwohl es dort praktisch keine Nadelbäume gab und die wenigen waren Fichten. Die Marsch- und Moorbewohner nannten alle Nadelbäume Tannen.

    »Wer ist eigentlich Lars?«, fragte Cengi plötzlich.
    »Das geht dich nichts an!«, raunzte Heinsohn zurück, die Fäuste am Lenkrad.
    Mehr sprachen sie nicht. Kurz vor Lieth geriet der Verkehr erneut ins Stocken, wurde immer langsamer, bis schließlich der Lastwagen vor ihnen anhielt.
    Cengi schreckte auf und fragte: »Was ist denn hier los?«
    »Stau«, antwortete Heinsohn.
    »Kommt das hier öfter vor?«
    »Keine Ahnung.«
    Cengi lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen, aber er hielt es nicht lange aus. »Was ist da vorn bloß los?«, fragte er nervös.
    Der Lkw vor ihnen setzte sich schnaufend in Bewegung. Im Schritttempo ging es weiter. Heinsohn lenkte den Wagen ganz an den Mittelstreifen, um an der Kolonne vorbeisehen zu können. »Da vorn sind Blaulichter«, sagte er. »Wahrscheinlich ein Unfall.«
    Cengi saß nun senkrecht. Seine innere Alarmsirene schrillte. »Und wenn das eine Polizeikontrolle ist? Wieso fahren die, die uns entgegenkommen, mit normalem Tempo?«

    »Warum sollte das ’ne Polizeikontrolle sein?« Heinsohn fuhr wieder ein Stück weiter. »Sicher ein Unfall. Wir sind bald zu Hause, halbe Stunde noch.«
    »Halt an!«, rief Cengi und zog seine kleine Tasche vom Rücksitz. »Halt sofort an, Chef!«
    Heinsohn gehorchte, er fuhr rechts auf den Grünstreifen zwischen Kolonne und Fahrradweg, und schon war Cengi draußen, seine Tasche unter dem Arm. Durch die halb offene Fensterscheibe sagte er: »Wenn was mit mir ist, geh zu Schlüter, Rechtsanwalt Schlüter in Hemmstedt. Er weiß Bescheid. – Und danke für alles!«
    Dann schlenderte er wie einer, der genug Zeit hat, auf dem Fahrradweg in Fahrtrichtung, bis er rechts hinter dem haltenden Lastwagen verschwand. Als der sich in Bewegung setzte, blieb Heinsohn nichts anderes übrig, als den

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