Paragraf 301
zu.
Was ist mit meinem Kopf los?, dachte Heinsohn. Fange ich an zu spinnen? »Eine Frage«, sagte er langsam. »Sie sagen, Arbeit ist Ihr Gebet. Bedeutet das, dass Sie …, dass man die Arbeit – gern tun soll?«
Yigzi sah Heinsohn erstaunt an. »Da sind wir ja mitten in einem Religionsgespräch angekommen«, sagte er. »Wir sagen: Bete mit den Händen, nicht mit den Knien. Es ist unmöglich, eine Arbeit immer gern zu tun. Aber wir sollten versuchen, sie möglichst gut zu tun, egal was es ist.«
Heinsohn versank wieder in Gedanken. Er war jeden Tag mindestens sechzehn, siebzehn Stunden auf den Beinen gewesen. Dass Arbeit Spaß machen und er sie gern tun könnte? Sie musste getan werden. Und wie oft hatte er seine Tiere verprügelt, nur so aus Wut?
»Essen Sie!«, unterbrach der Nachbar Heinsohns Gedanken und griff selbst nach einem der Löffel, die jemand zwischen sie gelegt hatte. Yigzi tauchte ihn in die Speise, schob ihn in den Mund und schloss die Augen.
»Jedenfalls sind wir Aleviten in der Türkei eine Minderheit, obwohl wir sehr viele sind. Wir fasten nicht im Ramadan, der Koran ist uns nicht besonders wichtig und, wie Sie sehen, tragen unsere Frauen keine Schleier. Wir glauben, dass wir für unser Leben selbst verantwortlich sind und nicht Gott verantwortlich machen können, wenn uns etwas misslingt. Aber man erkennt unsere Religion nicht an. Unsere Kinder müssen in den Religionsunterricht der Sunniten, man baut Moscheen in unseren Dörfern. Dabei brauchen wir keine Moscheen zum Beten«, erklärte Yizgi weiter und lachte. »Allah will, dass wir zuerst unsere Arbeit tun. Deshalb ist Arbeit unser Gebet und wir haben wenig Zeit, noch extra zu beten. Wir treffen uns ein paarmal im Jahr zum Cem, das ist unser Gemeinschaftsgebet, aber dafür brauchen wir kein Gotteshaus. Wir machen das zum Beispiel in einer Wohnung oder, wenn wir zu viele sind, hier – oben, im nächsten Stock befindet sich unser Cemraum. Es ist kein besonderer Raum. Gott ist es egal, in welchem Raum man betet, und es ist ihm auch egal, wann man es tut. Wenn wir Zeit haben, dann erwarten wir von Gott, dass auch er Zeit für uns hat und uns zuhört.«
Heinsohn war schon lange nicht mehr in eine Kirche gegangen, zuletzt irgendwann vor langen Jahren zum Erntedankfest, und gebetet hatte er, soweit er sich erinnerte, nicht seit dem Konfirmandenunterricht, und der lag fast fünfzig Jahre zurück. Aber er hatte immer gearbeitet, also hatte er auch immer gebetet, jedenfalls nach den Worten dieses Mannes, mit dem er hier Süßspeise aß.
»Was sind das für runde Dinger da drin?«, fragte Heinsohn.
»Kichererbsen. Es müssen immer zwölf Zutaten in dieser süßen Suppe sein, das Rezept stammt von der Arche Noah«, schmunzelte Yigzi. »Damals hatte man nur noch wenig Vorräte und jeder hat etwas dazugetan. Aber eigentlich wollte ich Ihnen etwas zum Tod unseres Veli Adaman erzählen«, wechselte der Mann das Thema. »Davon sind wir ja ganz abgekommen.« Er schob seinen leeren Teller von sich und fuhr fort: »Seine Familie wünschte, dass er in der Türkei begraben wird. In seiner Heimat. Wir haben ihn deshalb überführen lassen. Seine Familie hat es schwer jetzt. Der Ernährer ist nicht mehr da. Und er war ein weiser Mann, sein Wissen wird uns fehlen.«
»Aber wer hat ihn umgebracht?«, wiederholte Heinsohn seine Frage.
Mehmet Yigzi winkte müde ab. »Schon Velis Vater haben sie umgebracht. Er starb am Galgen – einen Tag nach Seyit Rıza, der sich die Schlinge selbst um den Hals gelegt hat, weil er nicht von fremder Hand sterben wollte.«
Yigzi hielt inne und sah das große Fragezeichen in Heinsohns Gesicht. Dann machte er eine schneidende Bewegung mit seiner rechten Hand. »Es hat keinen Zweck, dass ich Ihnen das alles erzähle«, sagte er. »Es ist zu viel. Sie könnten nichts damit anfangen, es nützt noch nicht einmal uns selbst etwas. Wissen Sie, unser Leben ist sehr verschieden von Ihrem. Und unsere Vergangenheit. Wir glauben, dass man nur das sagen sollte, was man sich vorher gut überlegt hat. Sonst soll man schweigen. Der Mensch soll nicht daherschwatzen, nur um sein Reden zu hören. Das vergiftet die Luft. Ich schwatze gerade. Verstehen Sie?«
Heinsohn nickte. Aber er verstand nichts.
»Vielleicht erkläre ich Ihnen alles ein anderes Mal. Sie sind immer herzlich willkommen.« Yigzi nahm sein Portemonnaie aus der Tasche und zog eine Visitenkarte heraus. »Hier ist meine Telefonnummer. Rufen Sie mich an, wenn Sie Lust haben. Wenn
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