Paragraf 301
seufzend hinzu: »Schreckliche Sache.«
»Ja – das ist es,« stimmte Heinsohn unbeholfen zu. »Er – er ist ermordet worden, nicht wahr?«
Sein Tischnachbar nickte. Er hatte einen schmalen Schnurrbart mit grauen Härchen an den Spitzen und dunkle braune Augen, genau wie Heyder, dachte Heinsohn und sah verstohlen an der Reihe der Speisenden entlang, an deren Ende er saß. Die Menschen hier hatten alle dunkle Augen. Und entweder graue oder schwarze Haare. Die Frauen auch. Zwei Alte hatten ein Kopftuch umgebunden, sie sahen so aus wie damals Heinsohns Mutter, wenn sie zum Rübenhacken oder Kartoffelnauskriegen losging, oder wie seine Schwester Hedwig, wenn sie mit einem Eimer Milch in der Hand wie ein krummer Nagel über den Hofplatz schlich. Vor drei Jahren war sie gestorben und Heinsohn erinnerte sich voller Scham daran, dass er sich gefreut hatte, sie endlich los zu sein. Dann war die Sache mit dem kleinen Lars passiert …
»Weiß man, wer es gewesen ist?«, fragte Heinsohn und schluckte trocken. Er hatte Heyder diese Frage nicht gestellt, das Thema war tabu gewesen zwischen ihnen, denn Heinsohn hatte Angst gehabt, auch von sich etwas preisgeben zu müssen, wenn Heyder das tat.
»Streng genommen nicht.«
»Wie …?«, fragte Heinsohn.
»Den Namen des Mörders kennen wir nicht«, erklärte Yigzi. »Aber wir glauben, dass wir wissen, wo wir ihn suchen müssen.«
»Wie …?«
»Sie staunen, nicht wahr? Vielleicht staunen Sie auch, warum ich so freimütig darüber spreche. Wenn Sie wollen, erkläre ich es Ihnen. Interessiert es Sie?«
Heinsohn nickte und vergaß, weiterzuessen.
»Das ist eine lange Geschichte«, fuhr der Türke fort. »Aber es ist gut, wenn es möglichst viele Deutsche gibt, die wissen, warum wir Aleviten von manchen unserer Landsleute nicht gemocht werden. Rotköpfe schimpft man uns. Besonders wenn wir keine Türken sind wie ich, sondern Kurden. Oder noch schlimmer: Wenn wir Zaza aus dem Dersim sind. Und das alles auch noch sagen.«
Heinsohn blieb stumm. Er verstand die Rede seines Nachbarn nicht.
»Haben Sie schon mal was von den Morden von Sivas gehört, Herr Heinsohn?«
Heinsohn schüttelte den Kopf.
»Ja, wie auch«, fuhr Yigzi fort und lächelte wieder. »Für die Deutschen, in deren Land wir leben, ist das kein Thema. In Sivas … Wir sind Aleviten. Die Morde von Sivas haben uns zu der Überzeugung gebracht, dass wir uns öffentlich zu unserem Glauben bekennen müssen. Wir sind Muslime, die den heiligen Ali als ihren Propheten anerkennen. Nicht alle Muslime glauben das Gleiche, verstehen Sie?«
Was Heinsohn über Mohammedaner wusste, konnte er in einem Satz zusammenfassen: Sie beteten fünf Mal am Tag zu Allah, sie machten Wallfahrten nach Mekka in Arabien, aßen kein Schweinefleisch und durften mehrere Frauen haben, die in Schleiern herumlaufen mussten. Er sah sich noch einmal verstohlen um. Bis auf die zwei Alten trug keine ein Kopftuch. Am anderen Ende des Tisches begannen zwei Männer, die Teller und das Besteck zusammenzuräumen. Ein junges Mädchen mit schwarzem Haarschopf stand auf und half den beiden Männern, ein alter Grauhaariger räumte mit langen Armen im Sitzen nach rechts und links und schob ihr das Geschirr zu.
Herr Yigzi folgte Heinsohns Blick. »Bei uns ist Gleichberechtigung. Gleichberechtigung von Mann und Frau ist sehr wichtig in unserer Religion. Wir hatten schon vor ein paar hundert Jahren Gleichberechtigung.«
Die drei Geschirrabräumer schwatzten miteinander und bauten gemeinsam einen Tellerstapel, einer der Männer trug ihn hinaus. Küche, Haus, Essen, das war immer Hildas Aufgabe gewesen. Heinsohn erinnerte sich, wie mühsam er kochen gelernt hatte, nachdem er für sich allein hatte sorgen müssen. In der ersten Zeit hatte es nur Pellkartoffeln mit Butter gegeben, dann hatte er herausgefunden, wie man Bratkartoffeln machte, nachdem er endlich den Pfannenwender in einer der Schubladen aufgespürt hatte, und schließlich hatte er angefangen, auch Eier oder Steaks zu braten. Mehr hatte er nicht gelernt. Pellkartoffeln mit Eiern, Bratkartoffeln mit Steak oder eine Mischung davon. Bis Heyder Börek und Lanmacun und Fleischspieße eingeführt hatte.
»Das ist bei den Sunniten anders«, erklärte Yigzi. »Sie nennen uns Ketzer, weil wir so ziemlich alles anders machen als sie. Und mit Ketzern …«
»Fahren Sie nicht nach Mekka?«, fragte Heinsohn, während er überlegte, was ›Sunniten‹ bedeutete. Seine Methode, sich Probleme vom Hals zu halten,
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