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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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indem er sie wegschimpfte, funktionierte nicht. Überhaupt war das heute ein Tag, an dem alles anders war.
    Yigzi schüttelte den Kopf: »Mekka ist uns unwichtig. Der Mensch wird nicht besser dadurch, dass er eine Reise macht. Er wird besser dadurch, dass er sich bemüht, ein gutes Leben zu führen. Er soll mit seinen Mitmenschen in Frieden und Harmonie leben und arbeiten. Die Arbeit, die man macht, tut man doch fast immer für andere, nicht für sich selbst. Sie als Bauer auf jeden Fall. Gute Arbeit schafft die beste Voraussetzung, um mit seinen Mitmenschen in Harmonie zu leben.«

    Schön wär’s, dachte Heinsohn, wenn man in Harmonie leben könnte. Oder es wenigstens wollte. Er lebte mit seinen Mitmenschen in Unfrieden. Ausnahmslos. Das war nicht zu leugnen. Seine Frau und seine drei Kinder hatten ihn nach und nach im Streit verlassen und er war sogar froh darüber gewesen, endlich Einsiedler und niemandem mehr Rechenschaft schuldig zu sein. Immerhin hatte er damals geheiratet, weil er Hilda liebte, und er war glücklich gewesen über die Geburt ihrer Kinder. Es hatte viele gute Tage in der schweren Zeit gegeben, bis zu der Sache mit Lars. Warum hatte sein Schicksal ihm die Familie zum Feind gemacht?
    »Kommen Sie«, sagte sein Nachbar. »Es gibt Nachtisch. Unsere Hızır-Speise. Sie werden sehen, sie schmeckt sehr gut.«
    Heinsohn merkte, dass hinter ihm derselbe Junge stand, der ihm vorhin seinen Fleischteller gefüllt hatte. Der Junge hielt zwei neue Teller in der Hand und stellte sie auf den Tisch. Eine gelbe Suppe mit allerlei unbekannten Dingen war darin. Nur die Rosinen kannte Heinsohn.
    Arbeit als Gebet, dachte Heinsohn. Sehr witzig. Wie man das wohl schaffen sollte? Er hatte zwar immer geschuftet, aber gern? Dass er für seine Mitmenschen arbeitete, war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen. Er hatte sich immer eingebildet, für den Hof zu arbeiten, für seine Familie, für seinen Nachfolger. Als er gleich nach dem Krieg mit sechzehn in die Lehre gegangen war und das eine Jahr auf einem anderen Hof im Land Hadeln lebte, hatte er ein einziges Mal daran gedacht, dass der Weg, den er gehen sollte, vielleicht nicht der richtige war. Denn Zeichnen war sein Lieblingsfach in der Schule gewesen und manchmal, damals, wenn er für sich allein gewesen war, hatte er mit einem Bleistift Bilder auf Papier gemalt. Manchmal sogar mit Tusche, denn in der Schule hatten sie einen Tuschkasten gehabt, in dem seine Lieblingsfarbe Gelb schon fast aufgebraucht war, den Kasten hatte er heimlich mit auf den Lehrhof genommen. Dort hatte er zum ersten Mal ein Zimmer für sich allein, in dem er Sachen machen konnte, die andere nicht sahen. Heinsohn war im Hollenflether Moor zur Schule gegangen, in eine Klasse mit acht Jahrgängen, und alle wurden nur von zwei Lehrern unterrichtet. Der eine war ein rotgesichtiger Grobian, dem die Wut wie Zacken eines Blitzes im Gesicht geschrieben stand. Und die andere war Fräulein Redemund, sie unterrichtete Handarbeit und Kunst, und jetzt, als Heinsohn den Löffel mit Rosinen und Mandeln und den anderen Zutaten, die er nicht kannte, in den Mund schob, fielen ihm ihre Worte wieder ein: »Willi, du kannst richtig gut zeichnen und malen. Ein wunderschönes Bild!« Er war so stolz über dieses Lob gewesen wie über kein anderes in seinem Leben, wobei ihn eigentlich nie einer gelobt hatte, und zugleich hatte er sich geschämt, denn Zeichnen und Malen waren brotlose Künste, die zu nichts taugten, wer ihnen frönte, stand im Verdacht, ein kraftloser Taugenichts zu sein. Er war froh gewesen, dass Fräulein Redemunds leise Worte niemand sonst aus der Klasse gehört hatte. Seiner strengen Mutter hatte er nie davon erzählt, erst recht nicht seinem fernen Vater, der nach dem Krieg aufgetaucht war, niemandem, auch Hilda nicht. Er hatte die Worte Fräulein Redemunds im zweiten Lehrjahr weggeschlossen in sein Herz und war Bauer geworden, wie man es von ihm erwartete. Und seitdem hatte er gearbeitet. Und nicht mehr über falsche und richtige Wege nachgedacht. Nur einmal, nämlich in den Pariser Nächten, als die Lebenstüren plötzlich offen schienen und er kurze Zeit geglaubt hatte, er könne durch jede von ihnen einfach hinausgehen. Sogar mit Hilda hatte er darüber reden wollen. »Mensch, Hilda«, hatte er angefangen, und dann wusste er nicht mehr weiter. Manches kann man nicht aussprechen, es bleibt besser im Kopf. Und als er sich zu Hause erneut in die Siele gelegt hatte, waren die Türen längst wieder

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