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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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durchdrang. Als er die Hose auf den Stuhl warf, erblickte er sich wieder im Spiegel. Er starrte mit offenem Mund, so überrascht war er. Der Spiegel, der bisher sämtliche Glieder seines Körpers komisch verzerrt hatte, gab zwischen Schenkelansatz und Bauchnabel nicht nur ein scharfes, sondern ein stark vergrößertes Bild wieder. Als hätte sich die aus Dunkel und Chaos auftauchende Welt auf einen einzigen Fleck zusammengezogen, auf eine einzige Insel mit verfließenden Rändern. Noch nie hatte er die Linie seiner Leiste, die sich aus der Unterhose hervorkräuselnden Haare, die Wölbung wie mit der Lupe vergrößert gesehen. Fünfzehn Jahre hatte er mit seiner Zwillingsschwester dasselbe Zimmer geteilt. Unerwartet und plötzlich schien er sich von näher sehen zu können, als in Wirklichkeit möglich war. Ein richtiger Zauberspiegel, dachte er mit kindlichem Jubel, er sah im Zauberspiegel sich selbst. Trat er näher oder weiter weg, zerfloss sein Körper sogleich oder zog sich in die Länge, und seine Lenden verzerrten sich mit, doch es gab einen sicheren Punkt im Raum, und wenn er den fand, konnte er sich in starker Vergrößerung und mit schonungsloser Schärfe betrachten.
    Er genoss es wie ein unglaubliches Spiel seiner versunkenen Kindheit. Den Punkt richtig treffen. Und um besser zu sehen, was im Spiegel mit seinem Körper geschah, warf er auch das Hemd ab. Das weiße Hemd flog, breitete sich aus, kam auf der Lehne zur Ruhe, der eine Ärmel hing aufgebläht hinunter. Es war nicht das erste Mal, dass er sich eingehender betrachtete, aber von so nahem hatte er es noch nie getan. Er wusste, dass das Fräulein irgendwo in der Nähe war, auch wenn er ihren Blick nicht spürte. Im Übrigen konnte sie von ihm auch gar nichts anderes sehen als seinen Nacken und die entblößten Schultern. Und falls man ihn beguckte, dann bitte. Er rührte sich nicht von der Stelle, wiegte vorsichtig seine Lenden vor dem Spiegel. Er merkte nicht einmal, dass er dem ewig wiederholten Rhythmus der Musik folgte.
    Mit der nächsten Bewegung würde er auf eine Weise gegen die Seinen aufbegehren, die nicht wiedergutzumachen war. Fremden Regeln gehorchen. Er musste es tun, es ging nicht anders. An einem völlig fremden Ort, völlig grundlos die Unterhose ausziehen.
    Das Fräulein war unterdessen nicht weggegangen, hatte den Kunden nicht sich selber überlassen, plauderte aber auch nicht mit ihm. Sie war beim Pult geblieben, jedoch ohne sich darauf zu stützen. Womit sie signalisierte, dass sie jederzeit zur Verfügung stand, jetzt aber der persönliche Geschmack des Kunden am Zug war. Sie blickte nicht einmal zu Döhring hinüber, auf seinen kindlich hochrasierten Nacken, auch nicht auf seine wohlproportionierten Schultern, sondern routiniert irgendwohin ins Dunkel. Was nicht hieß, dass sie nicht bei ihm war. Sie beobachtete ihn, ließ ihn in Wahrheit keine Sekunde aus den Augen, auch das gehörte zur hohen Kunst des Verkaufens. Sie musste an dem anderen Menschen das Persönliche, das Besondere herausspüren, um ihn dann einzufangen. Aber gleichzeitig durfte sie nichts Persönliches für ihn empfinden, beziehungsweise sie musste alle Gefühle und Werturteile so zurücknehmen, dass sie auf den andern neutral wirkte.
    Jetzt weiß ich, jetzt verstehe ich, sagte sich Döhring und drehte sich zurück. Kaum hatte er es ausgesprochen, verstand er schon wieder nichts mehr und sah sich auch im Zauberspiegel nicht. Als wüsste er nicht, wo in seinem Fortsetzungstraum er gerade stand. Er starrte auf seine Schuhe, auf den Gummibelag der Telefonzelle, wo zwischen feuchten Blättern zertretene Zigarettenkippen lagen, und sah doch das Dampfschiff. Trotzdem war keine Zeit mehr, gab es nichts mehr zu überlegen, kein Aus- und Abweichen mehr, selbst dann nicht, wenn er nichts verstand.
    Jedenfalls, noch zwei Jahre später sah er sich immer wieder als das auf der Seite liegende Schiff. Und selbst wenn er das auf Grund gelaufene Schiff war, musste er trotzdem ablegen. Er sah klar, was in diesem Augenblick geschah und was er seinerseits tun musste. Isolde rennt durch den langen Flur, nimmt den Mantel, holt den Aufzug, rennt in ihrer Ungeduld aber die Treppe hinunter, stürzt aus der Haustür, läuft um den Häuserblock herum. Das alles wird ungefähr drei, vier Minuten in Anspruch nehmen.
    Drei Minuten wird er haben, mehr nicht. Seine elementare Lust kann er weder verhindern noch beruhigen, er muss seinen Körper machen lassen, so wie man dumme Menschen schwatzen

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