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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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aufspielten, in Wahrheit Parias waren, Sklaven fremder Lüste, einem jeden ausgeliefert, und gerade deshalb mochte er sie doch.
    Er rannte vor ihnen davon.
    Nach ihrer inneren Kraft sehnte er sich, nicht aber nach ihren nackten Muskeln, nach dem ekelerregenden Duft ihres Puders, nach ihren Augen mit den künstlichen Wimpern, nach der zügellosen Parodie, nach ihrer völligen Ungedecktheit, ihrem Ausgeliefertsein.
    Im Laufen kam er mit dem komplizierten System von Fährten, Wegen und Pfaden überhaupt nicht mehr zurecht, mit der Topographie der unverständlichen Sehnsüchte, der auf dieser dreckigen Erde hinterlassenen Spur gehätschelter Phantasien und unerfüllter Wünsche. Wenn er alles sehen könnte, wenn er das gesamte System ihrer Existenz durchschaute, dann ja, dann würde er verstehen.
    Den anderen ohne Selbstaufgabe erleben, ihn mit keinem Finger berühren.
    Schon am ersten Abend hatte er beschlossen, bei Tag wiederzukommen. Doch am Tag verloren seine nächtlichen Beschlüsse jegliche Gültigkeit. Als könnte er tagsüber aus seinem anderen Leben höchstens als Ornithologe an diese Forschungsstätte zurückkehren, wo ein chaotisches Rufen, Singen, Trillern, Piepsen und Gurren war, die Vögel sich Paroli boten. Tagsüber konnte er zwar in die geheimen Gelasse fremden Bewusstseins hineinsehen, hatte aber nicht viel gemein damit. Im Tageslicht verschwanden gerade die nächtlichen Erlebnisse, die ihm zu einer brauchbaren anthropologischen Auswertung hätten verhelfen können. Tagsüber hing nichts direkt davon ab, und so wurde ihm sein nächtliches Ich am Tag völlig fremd. In jenem Leben durfte er nicht an die Bedürfnisse dieses Lebens rühren. Oder er hätte eins seiner Leben zugunsten des anderen aufgeben, das Ganze vereinheitlichen müssen, damit seine Existenz nicht so komplex verlogen war. Falls er das wirklich versuchte, wäre es, wie er spürte, sein Ende, ein Liebäugeln mit dem Wahn. Oder vielleicht steckte er schon bis zum Hals darin und konnte die verschiedenen Ebenen und Schichten der Realität nicht mehr auseinanderhalten. Etwas ging unaufhaltsam vor sich, etwas, das ihm demnächst unkontrolliert entgleiten würde.
    Wenn er mit jemandem plauderte und sich Mühe gab, seine Aufmerksamkeit von der inneren Dauerrede abzulenken, lächelte er beharrlich und ergeben, was im Allgemeinen genügt, um als gewinnend zu gelten. Aber gerade das brachte ihn mit seiner Verrücktheit in Berührung. Die Qualen dieser Gespaltenheit konnte er mit Hilfe seines nüchterneren und stärkeren Tages-Ichs nicht auflösen. Mit seinem zuvorkommenden Lächeln versprach und vergaß er tagsüber mehr, als die Nacht mit ihren Versprechen einlösen konnte. Im Sinn des Vereinheitlichungmanövers hätte er zuerst dem einen Ich zuflüstern müssen, welches seiner beiden Leben eigentlich das andere war. Das ging nicht, weil keins von den beiden wirklicher oder unwirklicher war, weder das nächtliche noch das vom Tag.
    Und so schien es vorerst vernünftiger, sich die Nächte auf der Margareteninsel nicht zu versagen. Sie sich zu verbieten hätte sowieso nichts genützt. Sich streng an die Pfade zu halten, das hingegen musste er sich vorschreiben. Schauen, sehen, beobachten, aber sich nicht einlassen mit denen, die ausschließlich auf sein nächtliches Ich aus waren. Auf der Hut sein, um das Tages-Ich zu bewahren und sich im Namen des idealen Paars intakt zu erhalten. Wenn auch nicht ganz bei klarem Kopf, so doch wenigstens nur am Rand des Wahnsinns.
    Sich auf seinen Geruchssinn verlassen.
    Aus dem Dunkel die Geruchsschwalle herausspüren, den Tabak, die Scheiße, den übelriechenden Urin, das Sperma, die feindseligen oder freundlichen Ausdünstungen der erregten oder sich gerade abkühlenden Körper, alles das führte ihn doch immer wieder richtig. Er war wie ein Tier, orientierte sich mit seinem Geruchssinn, während ihn seine Sohlen trugen. Als Tier fühlte er sich auch besser, denn nur mit seinen tierhaft funktionierenden Empfindungen konnte er seinem Bedürfnis nach Sachlichkeit Genüge tun. Das geschmeidige Gefühl des Tierseins gehörte zu den überwältigenden Entdeckungen der Nacht. Es war so stark, dass es ihn freisprach, seine Schuldgefühle neutralisierte, seine moralischen Bedenken aufhob. Aber völlige Sicherheit gaben ihm auf diesen dunklen Pfaden weder seine Sohlen noch sein Geruchssinn.
    Mit allen seinen Instinkten war er immer noch nicht genügend auf der Hut.
    Nicht weit von der breiten kiesbestreuten Allee, die den

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