Parallelgeschichten
glühenden Spalten.
Auch das sah er, obwohl er es nicht beobachtete, während er auch Dinge beobachtete, die er überhaupt nicht sehen konnte. Man hätte nicht einmal sagen können, dass er über etwas nachdachte. Er dachte nicht nach. Er antwortete mit dem Körper auf den Takt der Windböen, dadurch ordnete er alles, was ihn als Gedanke oder als namenloses Gefühl durchlief, unwillkürlich diesem Rhythmus unter. Als hätten die Elemente auch in ihm die Herrschaft übernommen, so wie an diesem Tag über die ganze Stadt. Seine Stimmung verdüsterte sich, sie hellte sich wieder auf, er fand Argumente, er verwarf sie kurz darauf, es überfluteten ihn Gefühle, die genauso unerwartet wieder zerflossen, er wurde deprimiert, er hoffte. Für die gleichzeitige Vielfalt hatte er keine Erklärung. Aus diesem peinlichen Unvermögen gähnte ihn ein seelisches Durcheinander an, das seine. In seinem Gesicht hingegen verzog sich keiner seiner Züge, im Gegenteil, seine Selbstbeherrschung ließ seinen Blick erschreckend gleichgültig werden.
Es gab in ihm jemanden, einen andern, der keine Person war und ihn bei jeder Bewegung und jedem Gedanken begleitete. Was immer er unterließ, was immer er tat oder zu tun beabsichtigte, dieser Jemand beobachtete ihn unbeteiligt, hatte keine Meinung, ließ aber auch nicht locker. Ging etwas sehr schief, erschien er mit seiner neutralen Miene auf seinem Gesicht. Er wartete auf den Augenblick des Handelns, mischte sich in nichts ein. Als würde er stumm bedeuten, dass jeder moralische Befehl oder jede ethische Überlegung zweitrangig seien, da ihnen das Handeln, oder auch der Verzicht darauf, in jedem Fall vorangehen. Mit seiner verkrampften vorgestreckten Kopfhaltung, seiner fast trotzig aufgeworfenen Oberlippe verriet der Junge dennoch, dass er nicht einfach nur so in die Gegend starrte, sondern etwas wollte, oder etwas nicht nicht wollen konnte, dass er etwas sah, etwas manisch im Auge behielt, es nicht loslassen durfte. Dieses Etwas ist da unten, genau gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes, an der Einmündung der Großen Ringstraße. Manchmal wird es von einer vorbeifahrenden Straßenbahn verdeckt. Oder vielleicht an der Bushaltestelle. Wenn ein Bus hielt, streckte er sich noch mehr, wie um über ihn hinwegzusehen. Vielleicht könnte jemand ankommen, darauf wartet er, deswegen darf er seinen Wachtposten nicht verlassen.
Während er darauf oder vielleicht auf etwas ganz anderes wartete und den rhythmischen Druck des Simses gegen seine Lenden genoss, begann sich im hofseitigen Zimmer die junge Frau im Bett doch zu rühren. Über ihren nackten Arm schien ein Schauer von Ungeduld oder Abwehr zu laufen, vielleicht auch eine feine physische Erregung. Ihre glatte braune Haut und die Muskeln in ihrem Arm zuckten in gegenläufiger Richtung. In Wahrheit war es der letzte Takt des Traums, dem das Erwachen nicht passte.
Sie lag seit dem frühen Morgen allein im Bett, die zurückgeschlagene Decke und ein paar herumliegende Sachen verrieten die abwesende Person; dunkle Socken vor dem Bett, etwas weiter weg eine Pyjamahose und eine weiße Unterhose auf dem Teppich, ein abgeworfenes Hemd, und in einem Sessel die Jacke des cremefarbigen Seidenpyjamas. Seit er hinausgelaufen war, hatte sich die junge Frau zum Schlafen gezwungen, sie wollte die Nacht vergessen, dann wieder war sie hochgeschreckt. Nicht wegen der morgendlichen Geräusche, nicht wegen des beharrlichen Läutens. Es war, als überquerte sie auf einer Fähre einen träge durch eine Ebene fließenden Fluss, und als landete die Fähre einmal an diesem, dann an jenem Ufer. Offenbar träumte sie tatsächlich, von einer Überquerung. Von Ufern träumte sie, zwischen denen es keinen Unterschied gab, weder Büsche noch Bäume, kein einziger Baum, sondern nur Fuhrwerke, ein Gedränge von Rindern und Menschen, die in Wolken aufgewirbelten Staubs aus der endlosen Einöde dahergeströmt kamen. Die letzten Bilder ihres Traums blieben noch einen Augenblick an der Oberfläche zum Erwachen haften. Gar kein Fluss war das, sondern ein mächtiger Strom, trüb von Sand, die matt schimmernde Wasserfläche gleichsam gewölbt. Vom einen Ufer war das andere nicht zu sehen. Aber ich müsste es sehen, dachte sie halb wach, in der Erinnerung ans verlassene Ufer, aber unmöglich, das ist nicht möglich. Gleichzeitig wusste sie nicht genau, was sie hätte sehen müssen. Leer rumpelten die Wörter in ihrem Kopf, sie verstand ihren Sinn auch im Wachen nicht.
Als wolle
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