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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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von Gyöngyilein. Sie denkt wohl, ihre Migräne höre auf diese Art auf. Das tut die aber nicht. Sie sollte viel gescheiter aufstehen und an die frische Luft hinaus.
    Ilona hatte eine laute Stimme und sprach seltsamerweise mit der anderen in der dritten Person.
    Die andere Frau fand daran nichts Beleidigendes. Sie selbst lebte erst seit wenigen Jahren in der Hauptstadt, so wie Ilona, die aus einem von Slowaken besiedelten Dorf in der Umgebung von Buda stammte. Wenn sie zuweilen in der Küche oder an einen Türrahmen gelehnt sich leise ihre Geschichten erzählten und keine besonders darauf achtete, wie die andere redete, oder was sie redete, mochte für Außenstehende die Begegnung der zwei ganz verschiedenen Akzente amüsant sein. Vokale, die bei Gyöngyvér als offenes ö aus der Kehle kamen, machte Ilona zierlich zu ä, und zudem verwendeten sie Ausdrücke, die weder die andere noch die Hauptstadtbewohner recht verstanden. Ihr Provinzlertum hatte seine eigene kleine, geheime Strömung, die sie mal verband, dann wieder gegeneinander aufbrachte und eifersüchtig machte; ihre Aufmerksamkeit war auf anderes gerichtet, sie urteilten anders über die Dinge, und so mochte mit ihnen geschehen, was wollte, sie verstanden sich doch immer noch besser, als ihre Umgebung sie verstand. Es war auch keine Frage, warum Ilona Bondor zu Gyöngyvér Mózes wie von einer dritten Person sprach. Mit dieser schlauen Methode vermied sie es, die jüngere Frau zu siezen, was sie eigentlich aufgrund des Bildungsgefälles zwischen ihnen hätte tun müssen.
    Die Migräne hört viel eher auf, wenn Gyöngyilein ins Schwimmbad geht.
    Jetzt reden Sie doch keinen Unsinn. Ich bin ja gerade nicht hingegangen, weil sie nach dem Schwimmen immer stärker wird.
    Es wäre trotzdem besser, wenn Gyöngyilein darauf gefasst ist, dass ich nicht nur das Fenster aufmache, das mache ich für Gyöngyilein gleich auf, sondern dass ich auch mit dem Reinemachen beginne. Anderswo kann ich ja nicht beginnen, die gnädige Frau ist auch noch nicht aus dem Bad gekommen. Wenn sie herauskommt, könnte Gyöngyilein hinein. Das wäre der Fahrplan, würd ich meinen.
    Jetzt blieb dieser Satz in der Luft stehen. Was das tägliche Reinemachen betraf, konnte damit tatsächlich nirgends sonst begonnen werden. Entweder im entferntesten straßenseitigen oder im innersten hofseitigen Zimmer, nur so und nicht anders. Es kam keine Antwort und auch keine Regung, die darauf hingewiesen hätten, dass dieses Gyöngyilein da endlich aus seinem Bett kroch. Das Telefon hingegen verstummte plötzlich wieder.
    Eine Weile hörte man nichts anderes als den in Hohlräumen, Spalten, Rohren und Öffnungen des imposanten Hauses singenden Wind.
    Niemand zeigte sich auf den Laubengängen, auch auf dem Hof nicht, die geräumigen Treppenabsätze blieben leer.
    Um diese Stunde kamen sowieso bloß die schwäbische Milchfrau aus Budakeszi oder die slowakische Eierfrau aus Pilisszentkereszt und eventuell der Briefträger. Doch in diesem Sturmwetter blieben sie weg. Ilona hatte ihren kleinen Jungen früh am Morgen in den Kindergarten gebracht, er konnte ja nicht den ganzen Tag hier im Weg herumstehen. Es gab nur einen Schüler im Haus, und um diese Zeit waren fast alle bei der Arbeit.
    So richtig viele Leute hatte es in diesem Haus das letzte Mal in einer der furchtbaren Nächte des Oktober sechsundfünfzig gegeben, alles einander unbekannte Menschen, vom Geschützfeuer auf der Ringstraße hier zusammengetrieben. Als der stark hinkende, bucklige und kahlköpfige Hauswart in der Morgenfrühe die ins Tor eingelassene schwere Eichenholztür geöffnet und hinausgeschaut hatte, war der Wind schon über die leere Ringstraße gefahren. Wer danach hinausging, zog die Tür mit großem Kraftaufwand, aber sorgfältig hinter sich zu, wozu im Übrigen auch eine ungelenke Aufschrift aufforderte. Die einst wahrlich vornehme Toreinfahrt wirkte dennoch wie ein höllischer Windkanal, den gerade der jaulende Satan persönlich betritt. Die Deckel der Mülleimer schepperten, vibrierten, hämmerten. Der Höllenlärm hatte allerdings auch einen banaleren Grund. Die oben im Torbogen angebrachten beiden Glasfenster waren in jener Oktobernacht durch den Luftdruck kaputtgegangen, und ein so schweres, festes Glas hatte sich seither, den verzweifelten Bemühungen des Hauswarts zum Trotz, in der ganzen Stadt nicht finden können.
    Das rund achtzig Jahre alte, schön proportionierte Gebäude galt in der Gegend eher als Rarität, hatte es

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