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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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vorgekommen, dass jemand in seiner Wut einen angebrannten, heiß qualmenden Milchtopf aus dem dritten Stock in den Lichthof hinausschleuderte, der Topf unglücklich gegen die Mauer schlug und von ihr wieder abprallte, das Doppelfenster aus Mattglas durchschlug und vor ihren Füßen landete.
    Das war bei Tisch der Moment des langen Schweigens.
    Über die aus der Not entstandenen Unannehmlichkeiten half ihnen auch nicht hinweg, dass auf dem Boden ein Orientteppich lag, die Gedecke mehr oder weniger in Ordnung waren und zwei besonders wertvolle Bilder an der Wand hingen. Die waren übrigens kaum sichtbar. Es waren alte, nachgedunkelte Bilder in schwerem Goldrahmen, und im Durchgang brannte gewöhnlich nur eine einzige Wandlampe ohne Schirm. Sie brannte Tag und Nacht, damit niemand über den versehentlich aufgeworfenen Teppich stolperte oder gegen einen achtlos beiseitegerückten Stuhl lief. Der mehrarmige vergoldete barocke Kronleuchter, der mit seinem verschlungenen Rankenwerk von der Decke hing wie ein schwerer, verschiedenster Verwandlungen fähiger unförmiger Schatten, wurde ausschließlich zu den gemeinsamen Mahlzeiten eingeschaltet.
    Das Läuten des Telefons drang bis hierher durch, aber jetzt hielt sich hier niemand auf. Auf dem größeren Bild waren gerade noch die Umrisse einer Schlachtszene zu erkennen, glänzend tiefbraune Kruppen sich aufbäumender englischer Vollblutpferde, die der Hand des Fähnrichs gerade entgleitende ungarische Fahne, von Hufen niedergetrampelte halbnackte Leiber. Aus dem tiefen Goldrahmen des anderen Bildes siebte sich das lasierte, rosige Porträt eines jungen Mannes hervor, eines Achtundvierziger Honvéd-Hauptmanns mit Namen József Lehr, der verträumten Blicks durch den Spalt der nicht ganz zugezogenen gestreiften Seidendraperien in den ewigen Dämmer des Lichthofs hinausspähte. Aus dem Badezimmer waren Geplätscher und die raschen, kurzen Schmatzgeräusche der Seife zu hören.
    Derjenige aber, der ohne weiteres ans Telefon hätte gehen können, ein hoch aufgeschossener, kaum neunzehnjähriger junger Mann von fast schon steifer gerader Haltung, war einfach nicht in der Lage dazu. Er sah alles, erfasste alles, hörte das Telefon wohl läuten, war aber trotzdem seit langem nirgends wirklich präsent. Überhaupt tat er vieles nicht, was er hätte tun können, er war mit Wichtigerem beschäftigt. Als müsste er sein ganzes zukünftiges Leben im Voraus überblicken und aus dieser imaginären Distanz abwägen, was er tun und was er lassen sollte.
    Wer könnte eine solche Verantwortung tragen, ihn jedenfalls lähmte sie.
    Seine Umgebung nahm allenfalls seine zeitweilige Zerstreutheit wahr, nicht aber seine geistige Gefährdung. Er war ausgezeichnet erzogen, und wenn er sich mit jemandem unterhielt, lächelte er ihn unablässig an, war aufmerksam, ohne aufdringlich zu sein, er war interessiert und fragte nach, was im Allgemeinen genügt, um als gewinnend zu gelten. Die Unberechenbarkeit seines Verhaltens nahmen nicht einmal seine Angehörigen zur Kenntnis, sie hielten ihn für ein wenig eigen, aber alles in allem für einen braven Jungen.
    Jetzt stand er am Fenster eines der straßenseitigen Zimmer, und während er etwas beobachtete, ließ er sich mit seinen Lenden hin und wieder weich gegen das Sims fallen. Er hatte etwas ins Auge gefasst, sein Blick verwuchs mit etwas, das außer ihm niemand sehen konnte und wovon eher nur seine unnatürliche Körperhaltung, die steife kleine Halbdrehung zeugte. Wenn er sich vorbeugte und an den Lenden den Druck des Fensterbretts spürte, berührte er mit der Schläfe fast das Glas. Gleichzeitig musste er die Schulter anziehen, um die Scheibe nicht einzudrücken. Niemand hätte verstanden, was er hier trieb. Hätte er einfach nur am Fenster gestanden, ohne auf etwas Besonderes zu achten, so hätte er den feierlich leeren Platz gesehen, über den zuweilen eine gelbe Straßenbahn zog, oder die gegeneinanderschlagenden, nackt glänzenden Äste der im Wind schwankenden Bäume, vielleicht auch den riesigen Himmel, an dem sich weiß glühende Spalte auftaten, während die regenschweren, doch leicht dahinsausenden Wolken sich jagten, ohne sich je aufzutürmen.
    Dem bewegten Bild wohnte ein unberechenbarer Rhythmus inne.
    Die Regenschauer prasselten nicht unbedingt dann gegen die Scheibe, wenn sich der Himmel verdunkelte. Oben bewegten sich die Wolken schneller, als der Regen unter ihnen fallen konnte, und so sah es eher aus, als falle er aus den weiß

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