Parallelgeschichten
sie darunter hervorlugen, hob sie das Kissen an und gleichzeitig auch den Kopf ein wenig. Statt auf die sinnlosen Wörter zu achten, hätte sie lieber hören wollen, ob endlich jemand ans Telefon ging, oder ob doch sie es tun musste. Die Bewegung brachte einen Geruch mit sich, der ihr zugleich fremd und vertraut war. Was war da um sie herum überhaupt los. Sie nahm befriedigt zur Kenntnis, dass trotz des entfernten Gerufes der älteren Frau niemand den Hörer abnahm. Sie auch nicht. Ging sie überhaupt nichts an. Schließlich war ja Kristóf in einem der straßenseitigen Zimmer. Sie schritt im Kopf wieder die ganze Wohnung ab, immer beim Aufwachen ging sie mit wachem Gefühl von Zimmer zu Zimmer, als taste sie die Situation und den seelischen Zustand der Bewohner ab, und in dieser Beschäftigung lag in der Tat etwas Animalisches.
Dieser junge Mann namens Kristóf war sowieso im Lauf der Zeit ihr schwacher Punkt geworden.
Sie belauerte ihn in ihrer Vorstellung, fühlte sich in ihn ein, wollte wissen, was er gerade tat.
Kristóf wohnte im hofseitigen Zimmer neben ihnen, und sie dachte mit einiger Besorgnis, dass er vielleicht mehr von ihnen wusste, als sich schickte.
Nicht immer unterdrückten sie die Geräusche, schließlich war die gemeinsame Lust noch das Einzige, das sie verband. Wahrscheinlich hätte sie sich nur ungern eingestanden, dass ihr Ágost allmählich fremd wurde, dass sie sich schon ihrer Ähnlichkeit wegen zu Kristóf hingezogen fühlte. Sie verfolgte ihn aufmerksam, nicht nur in ihrer Vorstellung, zuweilen waren tatsächlich die Schreie, die Ágost bei ihr auslöste, für ihn bestimmt, sie kam auch ein wenig für Kristóf zum Höhepunkt. Ein bisschen lauter als nötig, damit er im Nebenzimmer etwas davon hatte. Ob sie ihr Ziel erreichte, war nicht sicher. Na läutet doch, nur zu. Jemand redete in ihrem Kopf ununterbrochen. Sie war nicht ganz sicher, ob sie die fordernde Frauenstimme nicht auch geträumt hatte. An Kristóf hielt sie mit verzweifelter Phantasie fest, vor dieser im Badezimmer schreienden Frau aber hatte sie Angst, im Schlaf wie im Wachen.
Im Kachelofen brannte das Feuer, es heulte geradezu, vom Bett aus starrte sie direkt ins flackernde Licht.
Als sähe sie zum ersten Mal ein Feuer. An diesem Ufer war alles fremd, weit weg, was sie am anderen Ufer, am vertrauteren, hatte zurücklassen müssen. Sie staunte, wusste nicht, woher der Traum gekommen war, einen so großen Fluss hatte sie im Leben nie gesehen. Einen solchen habe ich nie gesehen, nie sehen können, der ist so groß wie der Ganges oder der Mississippi. In ihrem Kopf hallte ihre eigene Stimme wider. Sie hätte schon längst aufstehen sollen. Aus ihrem Kissen strömte der fremde Geruch der Wohnung, an den sie sich nicht gewöhnen konnte, das hätte ihr einen Stoß geben sollen, hinaus aus dem Bett. Es war auch nicht die Wärme des Betts, die sie festhielt, sondern der Tag, der ihr bevorstand und aussichtslos erschien. Alle ihre Tage waren aussichtslos. Die zwischen den beiden Ufern verkehrende Fähre bedeutete wohl, dass sie tatsächlich nirgends zu Hause war, nie gewesen war und nie sein würde.
Ihre Mutter, von der allein der Name übrig geblieben war, Borbála Mózes, hatte sie, als sie ein paar Tage alt war, im Entbindungsheim von Nagykőrös zurückgelassen, und man hatte das Neugeborene mit dem Familiennamen seiner Mutter und dem Vornamen Gyöngyvér ins Register eingetragen. Sie wusste nicht, wer ihr Vater war und wem sie glich, oder ob sie jemandem glich. Den scheußlichen Vornamen hatte vielleicht ihre Mutter gewollt. Für diesen Namen hasste sie die unbekannte ledige Mutter mit düsterer Ausdauer, für
gyöngy
, Perle, und für
vér
, Blut. Sie war zuerst in kirchlichen Institutionen aufgewachsen, dann bei Pflegeeltern, später in Mittel- und Hochschulkollegien. Wahrscheinlich ratterten ihr die nicht ganz verständlichen Wörter durch den Kopf, weil ihr der Schmerz in der Stirn pulsierte. Zwischen den beiden freundlichen Ufern des Stroms aber verschwamm sie samt ihrem Unbehagen mit dem Geruch des Wassers, der krampfartige Schmerz löste sich in der Landschaft auf. Im leichten Dunst des frühen Vormittags glühte die Sonne, es war Sommer, ein Sommer, an den sie sich im wachen Zustand nicht erinnerte; ein kurzes, weiches, frühmorgendliches Glück, das sie auch nach so vielen Jahren für die quälenden Kopfschmerzen entschädigte. Heimlich trank sie zuweilen einen über den Durst. Das Glück von vorhin wurde
Weitere Kostenlose Bücher