Parallelgeschichten
sie zuerst die Glieder ihrer kühl gewordenen Körper ausfindig machen mussten, um dann die des anderen aus den eigenen herauszuspüren.
Auf die Art begriffen sie mit ihren voneinander erfüllten Gefühlen ihre Entsprechung, auch wenn ihnen die Besonderheit des Augenblicks gar nicht bewusst war. Sie hätten nicht sagen können, wie dieser andere hieß, dessen Körper alle Bilder aufgesogen hatte, die sie sich von sich selbst machten, ja, eine Weile wussten sie nicht einmal ihren eigenen Namen. An die Stelle des Bildes, das jeder von sich hat, war das aufdringliche Ich des anderen Menschen hereingeströmt, so wie ihre eigene Körperlichkeit, ihr eigenes Körpergefühl aufgelöst war vom Gefühl für die Beschaffenheit des anderen Körpers. Sie sahen nur Dunkel in Dunkel, überall nur Dunkel, während sie, im Sosein des anderen versunken, doch spürten, dass sie selbst wohl auch Eigenschaften hatten, zu denen sie zurückfinden sollten.
Sie vermochten die Erinnerung an ihre eigene Erinnerung nicht ins Bewusstsein zurückzuholen.
Das im Luftzug sacht schaukelnde Fenster ließ ein leises Quietschen hören.
Gyöngyvér redete zuerst. Verhalten, sehr aufgeregt, als würde ihr die eigene, fremd gewordene Stimme Einsicht ins eigene Wesen eröffnen. Überraschenderweise. Und als könne sie sich selbst doch nicht verstehen, da ja noch jemand in ihr drin ist, der schneller denkt beziehungsweise im Voraus schon gedacht hat, was sie dann sagen wird.
Hör mal, sagte sie, obwohl sie nicht einmal wusste, ob da noch jemand war, und wer das sein könnte. Hör gut zu.
Der andere verstand die Aufforderung nicht. Weder ihren Inhalt noch von wem sie im Dunkeln kam. Sie war auf fremde Art aufregend, blieb ein akustisches Erlebnis. Er hätte sie gern wahrgenommen, bloß hatte er keine Ahnung, zu wem die Aufregung gehörte. Es fehlte ihm ein Wissen. Als griffe er in ein offenes, schmerzhaftes Dunkel hinunter, wo das alles einmal vor langer Zeit geschehen war. Auf diese Art schießt der Schmerz tief in die Zahnwurzel hinein.
Ich erzähl dir rasch, was ich träume, fuhr die unterdrückt erregte Frauenstimme fort, ganz in der Nähe. Hör zu.
Als rede sie aus dem warmen Inneren des Dunkels heraus und würde mit dieser fremden Stimme die kühle Oberfläche des Fleisches erreichen, sie streifen. Sie hätten aber nicht sagen können, wessen Körper abgekühlt war, noch wer auf seinem Körper die warme Berührung der Stimme spürte.
Für einmal weiß ich’s, rief die Frau heiser, ich kann es erzählen. Was den Mann erneut nachdenklich machte, ja, entsetzte. Er wusste nicht, wer das in ihm oder außerhalb von ihm war, der irgendetwas wusste, irgendetwas so sehr wollte.
Sie ihrerseits spürte, dass ihr Ruf in der abweisenden Außenwelt töricht klang. Wie könnte es der andere verstehen, wenn nicht einmal sie selbst wusste, was sie eigentlich wusste. Im Gegenteil, da ist nichts, nichts, außer diesen zu nahen, abweisenden Wänden, dem kleinen Scheißzimmer. Nichts ist fassbar. Das alles träume ich. Nur das Gefühl, etwas erzählen, teilen zu müssen, ein Wunsch, ein leerer Wunsch.
Sie sah vor sich eine lichtdurchglühte, verschleiert schillernde, unbekannte Landschaft, die sie aber nicht zum ersten Mal sah und doch nicht mit den Gefühlen identifizieren konnte, die sie beim Anblick vertrauter Landschaften hatte. Gedanken und Gegenstände deckten sich nicht, auch nicht die Gegenstände der Gedanken, alles war ein wenig verschoben. Der andere nahm sie jetzt auf, oder sie nahm ihn auf, das hingegen spürte sie wohl. Während sie mit offenen Augen darauf starrte, wie sie einander aufnahmen, blickte sie über die Bewegungen hinaus und fand sich allein unter Wasser wieder, es rauschte, rann, strich über ihren Körper, strudelte ihn, zog an ihren Kleidern, riss sie weg. Eine mächtige, streichelnde Leere umfing sie, in der die hochstehende Sommersonne durchschien, vibrierte, glitzerte. Etwas zog sie, sog sie entsetzlich hinunter, sie wehrte sich vergebens. Sie wehrte sich gar nicht. Ein Glücksgefühl überkam sie. Jetzt konnte sie mit völliger Gewissheit sagen, dass es kein Traum war, sie hatte es schon immer gewusst, nein, das ist doch nicht einfach ein wiederkehrender Traum. Aber sie hätte es nicht aussprechen können, wenn sie den Mund zum Sprechen öffnete, um dem anderen davon zu erzählen, strömte Wasser herein.
Ich weiß nicht, antwortete der Mann, und auch er wusste noch nicht, was er damit meinte. Ich weiß nicht, wann wir
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