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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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dass ich mit meinen Schritten von einem Ort zum andern ging.
    Als könnte ich selbst nur schwer glauben, dass ich fähig war, einen Fuß vor den andern zu setzen und mit dieser seltsamen Beschäftigung mein physisches Gewicht vorwärtszutragen.
    So weit ging die Erinnerung, oder das Vergessen.
    Denn niemand hatte wirklich annehmen können, er würde, zusammengepfercht in fremden Kellerräumen, die Nacht überleben.
    Gegen Mitternacht hatte es keine Elektrizität, kein Wasser mehr gegeben. Als wäre das Erdinnere in Bewegung geraten, alles zitterte, dröhnte, krachte, bebte. Vom unverputzten Ziegelgewölbe fiel Salpeter. Das alles war später nur noch so in meinem Leben präsent, dass ich ungern in den Keller hinunterging, wenn ich es aber doch tat, dachte ich nicht einmal daran, denn es schien ratsam, die heimliche Beklemmung rasch zu verdrängen. Der Luftdruck hatte die Kerzenflammen angesogen, dann ausgeblasen. Trotzdem flackerte irgendwo eine wieder auf. Alle waren taub, alle brüllten, aber auch so verstanden sie sich nicht. Die Menschen stolperten hilflos umher, tasteten sich durchs Dunkel oder rannten panisch irgendwohin, wobei sie so taten, als hätten sie etwas Dringendes zu erledigen.
    Jemandem schien eingefallen zu sein, dass man die Kellertür nicht schließen durfte.
    Sie wurde aufgemacht, und die Männer verstellten die Zugangstreppe sorgfältig.
    Verrottete Kisten, uralte Schränke, aufgeschlitzte Sessel, wacklige Sofas wurden aus den Tiefen der Kellerabteile herbeigeschleppt. Nicht alle beteiligten sich, es gab welche, die sich ausschließlich mit sich selbst beschäftigten, mit ihren weinenden Kindern, ihren Familien. Diese hatten sich in ihren eigenen Abteilen eingerichtet, als hofften sie, hinter den Lattenverschlägen Schutz zu finden. Aber weder das Weinen noch die Flüche noch das Aufschlagen rennender Füße waren zu hören. Ich dachte nicht darüber nach, warum wir mit einem Mal hier zu so vielen versammelt waren. Ich sah nur die offenen Münder, im entsetzten Schreien, im hysterischen Kreischen. Trotzdem gewann in den dunklen Gängen eine rationale Art des Abwägens von Möglichkeiten und Chancen die Oberhand. So gelähmt man auch sein mag, in solchen Situationen ist das Hirn doch voller Berechnungen. Und auf irgendeine Weise waren immer die Leute in der Mehrzahl, die ihren fieberhaften Tatendrang einem Rest von Vernunft oder einer realisierbaren Hoffnung unterstellten.
    Die Sache stand schlimm.
    Es war klug, die schwere Eisentür des Kellers offen zu lassen und den Zugang sorgfältig zu verstellen. Falls nämlich das Haus über uns zusammenstürzen sollte, würde der Schutt die Tür verrammeln, und wir würden uns niemals herausgraben können. Wer konnte schon auf Hilfe zählen. Na ja, die Amerikaner würden kommen. Falls das Leitungsrohr platzt, ertrinken wir mangels eines Ausgangs in der Kellerüberschwemmung. Die Erde bebte so stark, dass jemandem auch das in den Sinn kam. Das Hauptleitungsrohr ist schon geplatzt, deshalb haben wir kein Wasser. Man konnte ja nicht wissen, ob das Ganze bald aufhören würde oder erst jetzt richtig begann. Durch die Luken, die auf den geschlossenen Hof gingen, sah man, dass es in der Nähe brannte. Es gab zwei solcher Luken, ziemlich nahe beieinander, die sich steil nach oben öffneten. Der fürchterliche Anblick, der sich uns bot, gehörte ins Reich des Unwahrscheinlichen.
    Das rote Flackern über den drei Stockwerken des Gebäudes wurde am nächtlichen Himmel reflektiert.
    Wie ein gigantisches Schattenspiel, ein himmlisches Züngeln.
    Während einige unter den Luken stehen blieben und fasziniert die rötlichen Schatten der ins Dunkel leckenden Flammenzungen betrachteten, blieb eine Weile das Artilleriefeuer gänzlich aus. Man hörte nur seine eigene Taubheit. Die vielleicht noch erschreckender war als der Lärm. Später hörte man aus der tauben Tiefe Maschinengewehrsalven heraus, und das war schon fast, als wäre Friede.
    Und von irgendwoher schien die Kellerwand gleichmäßig zu dröhnen.
    Einige hatten aus Angst vor dem Rohrbruch eilig begonnen, die Hinterwand durchzubrechen, um in die eventuell weniger gefährdeten Häuser der parallel verlaufenden Eötvös-Straße hinüberzugelangen. In jener Nacht wurden unter dem Pflaster der Stadt durch die Kellerwände hindurch wahre Labyrinthe aufgetan, doch das erfuhr ich erst im folgenden Sommer, im Wolkensteinhaus im Wiesenbadener Tal, von Pisti. Die Frauen erinnerten sich noch aus der Zeit der Belagerung, wo

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