Parallelgeschichten
war seltsam, ihn im Höllenlärm der Waggonräder zu hören, im Flattern und Rattern, und durch sein offenes weißes Hemd seinen straffen braunen Körper zu bewundern. Bestimmt hätte auch ich es so erzählt, ohne jegliche Emotion, als wehrte man sich verschämt gegen jegliche Gefühlsseligkeit, und ohne jedes Selbstmitleid, als sagte man es nur so vor sich hin. Wir rasten in die unergründliche Nacht hinein. Er wusste, dass ich das Wesentliche kannte. Ein paar Worte genügten, um es anzudeuten, wir hatten uns ja schon einmal gesehen, es genügte ein züchtiges Zwinkern, damit wir wussten, wie der andere über diese Dinge dachte. Das war der ältere Junge, der mich in jener denkwürdigen Morgenfrühe in der Podmaniczky-Straße angehalten und gefragt hatte, wohin wir gehen, zu Glázner, hatte ich gesagt, Brot holen, und da war die Frau gewesen, die so vertraut aus dem ersten Stock zu ihm heruntergerufen hatte.
Und ihn Pisti genannt.
Als er sich mit seiner langen Munitionskiste unerwartet zu mir beugte und mir im Dunkeln sein Gesicht so nahe kam, dass mich sein lauwarmer Atem streifte, fühlte ich mich wie auf frischer Tat ertappt.
Wir wechselten nur ein paar Worte.
Er drückte sich nicht gerade gewählt aus. Trotzdem hatte ich das Gefühl, ich sollte bei ihm bleiben und auch kämpfen.
Als würde ein friedliches Fest vorbereitet, strömte aus den Fenstern oben das Licht.
Gleichzeitig erschreckte mich die Anziehung auch, denn es war, als erblickte ich mich selbst in einer schöneren, schärfer umrissenen Gestalt und könnte mich deshalb nie mehr von ihm trennen, deshalb und nicht etwa aus Gründen der Ehre und der Gerechtigkeit. Bis dahin war ich nur ein Schatten gewesen, und jetzt war da vor mir der Körper an sich. Als ginge es nicht um meine Feigheit oder seinen Mut, sondern um seine Schönheit. Obwohl ich in jenen Tagen mit vielem beschäftigt war, aber sicher nicht mit Schönheit. Irgendwie sah man eher das, was hinter der Hässlichkeit oder Schönheit eines jeden lag. In dem allgemeinen Aufruhr tastete man mit dem Blick Beschaffenheit und Eigenheiten des Charakters ab, das war wichtiger. Dieser Junge ist gefährlich, Achtung, ihm aus dem Weg gehen. Es war, als müsse ich mir selbst aus dem Weg gehen. Damit nichts Unwiderrufliches geschah, ging ich weiter, auch wenn ich nach ein paar Schritten gern zurückgeblickt hätte, und so wurde das unwiderruflich, dass ich wegging.
Obwohl ich ja auch noch fähig gewesen wäre, Munition auf der Schulter zu schleppen.
Was in der Sprache der Gefühle bedeutete, dass es doch richtiger gewesen wäre, bei ihm zu bleiben. Die Situation auf der Straße ließ sich rasch überblicken.
Ihr Munitionslager befand sich in der Tordurchfahrt des gegenüberliegenden Gebäudes, in der einstigen Portiersloge, dort holten sie Nachschub, um ihn den Scharfschützen auf dem Dach zu bringen. Im Radio war seit Tagen von Heckenschützen die Rede, bis der Waffenstillstand zwischen Russen, Regierungstruppen und den Aufständischen endgültig war. Die Aufständischen hatten Positionen bezogen, die man von der Straße her nicht beschießen konnte. Das Kanonenrohr der Panzer hatte keinen so offenen Winkel, und sie da oben hatten die Straße im Überblick. Entweder man musste aus größerer Entfernung mit der Kanone das Gebäude zerstören oder mit dem Panzer so lange beschießen, bis das Dach mit den Schützenständen auf die unteren Stockwerke krachte.
Die wichtigeren Verkehrsknotenpunkte blieben in der Hand der Aufständischen.
In der vergangenen Nacht musste auch hier der Kampf getobt haben, dann hatten sich die Russen mit ihren Kanonen unverrichteter Dinge zur Basilika zurückgezogen. Aber kaum war ich an die zusammengeschossene Ecke gelangt, wo das Fotoatelier mitsamt seiner Einrichtung gewissermaßen auf den Gehsteig herausgekippt war und Schutt und Glassplitter unter den Sohlen knirschten, vergaß ich meine dumme Sehnsucht, bei ihm zu bleiben. Ich verzichtete auf den Kampf und damit auf die moralische Überlegenheit. Ich ging weiter, nach Brot, und die wichtigere Frage war, wie wir die Straße überqueren sollten, wer es zuerst wagen würde. Von der Basilika her konnten sie mit ihren Kanonen die Bajcsy-Zsilinszky-Straße auch blind beschießen, falls es da im Dunkel der Morgenfrühe einen unbedachten Schritt oder eine Bewegung gab.
Im Sommer des folgenden Jahrs erinnerte ich mich nicht mehr, an welchem Tag es gewesen war, und im ersten Augenblick wusste ich nicht einmal, woher ich
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