Parallelgeschichten
kommen.
Wir ratterten noch durch heimische Landschaften, unser Zug hielt an den Stationen nicht, sondern brauste unter lautem Pfeifen durch, dann wieder stand er lange auf offener Strecke. Ein schwach beleuchteter Sonderzug in der heißen Sommernacht. Also waren wir wirklich frei.
Wenn der Zug auf offener Strecke plötzlich gebremst und angehalten hatte, pulsierte um uns herum die von Grillenzirpen widerhallende Nacht.
Und falls wir doch noch nicht ganz frei waren, würden wir es jenseits der Grenze bis zu einem gewissen Grad sein.
In jenem Jahr überfiel uns der heiße Sommer, kaum war das Schuljahr beendet.
Auf der Benachrichtigung hatte bloß gestanden, wir sollten uns um die und die Zeit in der Abfahrtshalle des Ostbahnhofs einfinden, und Abfahrtshalle, das versprach an sich schon Gutes. Sich melden bei Zug Nummer zwei, Auslandsaufenthalt mit unbestimmtem Zielort, Gruppenausreisepapiere aufgrund von Teilnahmeschein. Das Ganze war völlig unverständlich. Unter den einzelnen Benachrichtigungen gab es den Unterschied, dass sich andere bei Zug Nummer eins oder Nummer drei zu melden hatten, ich hingegen bei Zug Nummer zwei. Niemand wusste, was das bedeutete, und wie aus einem solchen Teilnahmeschein Gruppenausreisepapiere würden. Ich war noch nie im Ausland gewesen. Als führe ich nach Paris zu meiner Mutter, die mich natürlich nicht erwartete, überhaupt nicht neugierig war auf mich, an die ich mich gar nicht recht erinnerte, von der ich nicht wusste, ob sie noch dort lebte, nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte.
Ich verging fast vor Sehnsucht, das Meer zu sehen, denn Ausland, das bedeutete für mich nicht nur meine Mutter, sondern auch das Unendliche.
Die beiden fernen Gegenstände meiner Sehnsucht berührten sich in der Nacht vor der Abreise bis zu einem gewissen Grad, und so bekam ich Fieber, wie ein aufgeregtes kleines Kind, und schlief über meinem Atlas ein. Als würde mir mit dem Meer meine Mutter zurückgegeben. Oder wenn nicht, würde mir immerhin ein noch mächtigeres Wasser geschenkt, das ich nicht kannte, von dem ich aber doch wusste, wie großartig es war. Von diesen Phantasien erfuhr niemand, und auch mein Fieber musste ich verbergen. Vielleicht merkten sie höchstens, dass ich ein bisschen blasser und noch wortkarger war als sonst. Nínó befühlte mir die Stirn. Ich hatte noch Fieberschauder, als Ágost und ich an dem rasch heiß werdenden Morgen zum Bahnhof fuhren.
In der mächtigen, sonnenbestrahlten Bahnhofshalle das ungeduldige Geschrei mehrerer tausend Kinder und wohl noch mehr Angehöriger. Seit auch meine Großmutter tot war, küsste mich niemand mehr, berührte mich niemand mehr, umarmte mich niemand mehr. Der schöne Ágost und ich konnten uns nicht ausstehen. Zärtlichkeiten seinerseits brauchte ich nicht zu befürchten, der bemerkte mein Fieber schon gar nicht. Er kümmerte sich kaum um jemand anders als um sich selbst. Jetzt gerade beschäftigte ihn vor allem sein uralter, in der Sonne stehender Mercedes Nürnberg, von dem er behauptete, er sei eigens für Papst Pius gebaut worden, und bei dem in den vergangenen Tagen das Kühlerwasser dauernd ins Sieden geraten war.
Kaum hatten wir die schallende Glashalle des Bahnhofs betreten, wurde er angesichts der Menge noch nervöser, und er redete wieder von seinem Wagen, während sich meine Sehnsucht aufzulösen begann, vielleicht sogar auch mein Fieber. Irgendwelche einen persönlich betreffende Versprechen hatten in der Menge keinen Platz mehr. Ich wusste, was jetzt kam, der übliche kollektive Horror. Keiner von uns beiden hatte Lust, sich gleich darunterzumischen, ich stellte den Koffer neben mir ab. Es wäre besser gewesen, krank zu Hause zu bleiben. Wer hätte denn gedacht, dass die ostdeutsche Kinderurlaub-Aktion solche Ausmaße hatte. Wir hatten uns irgendwie ein hübsches kleines Privileg vorgestellt.
Ágost drehte den Kopf hin und her, um zu sehen, an wen er sich in der Menge wenden, was er unter so vielen widerlichen menschlichen Wesen tun sollte.
Die Halle war an dem Morgen völlig geleert worden, der gewöhnliche Verkehr auf die äußeren Gleise umgeleitet. Drinnen standen nur drei Waggon-Kompositionen, den Zugang versperrte ein Polizeikordon. Auch die Eisenbahner konnten den hysterisch Fragen stellenden Angehörigen nicht sagen, welcher Zug wohin fuhr, oder sie durften es nicht. Offenbar ließ sich nichts in Erfahrung bringen. Ágost rührte sich nicht von der Stelle, er stand da wie ein Ölgötze. Ich meinerseits
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